Zwischen Hessen und der mittleren Wolga liegen über 3.000 Kilometer. Diese Entfernung bedeutete im 18. Jahrhundert mehrere Monate Reisezeit und zwar durch teilweise völlig unerschlossene Gebiete ohne Straßen und Städte. Für die hessischen Auswanderer war das eine extrem gefährliche und alleine kaum zu bewältigende Unternehmung. Unterstützt wurden sie dabei aber von russischen Beamten und Abgesandten der russischen Zarin. Die wollte sie als Siedler an der Wolga haben und ließ ihre lange Reise gut finanzieren und überwachen, denn die Auswanderer waren in ihren Augen vor allem eine Investition, die nicht umsonst gewesen sein sollte.
1 Die Reise nach Lübeck
Im 18. Jahrhundert war die schnellste Art zu reisen immer noch per Schiff. Um auf dem Weg nach Russland zumindest einen Teil der Strecke mit dem Schiff zurücklegen zu können, musste man über die Ostsee reisen. Und der wichtigste deutsche Hafen an der Ostsee war damals Lübeck. Also zogen die hessischen Siedler mit ihren Lokatoren nach Lübeck. Hier warteten bereits deutsche Agenten, die im Auftrag der russischen Regierung Schiffe charterten, um die Auswanderer über die Ostsee nach Petersburg zu fahren. Der Zustrom in den Lübecker Hafen war aber bald so groß, dass die Auswanderer oft wochenlang warten mussten, bis sie eingeschifft werden konnten. Da sie in der gesamten Zeit ihrer Reise ja nicht arbeiten konnten, um sich ihr Geld zu verdienen, wurden sie in dieser Zeit von ihren Lokatoren mit Tagegeld versorgt.
Galerie: Über die Ostsee
Darstellung
Eine Stadt voller Siedler
Darstellung
Eine Stadt voller Siedler
In der zweiten Hälfte des 18. Jh. sind in Lübeck 40.000 Kolonisten durchgeschleust worden, die ein Aufruf Zarin Katharinas aus allen Gebieten Deutschlands, insbesondere Süddeutschlands, zur Ansiedlung in Russland mobilisiert hatte. [...] Allein im Mai des Jahres haben sich demnach ca. 6.000 Kolonisten in und um Lübeck aufgehalten.
Quelle
Auszug aus dem Reisegedicht eines Auswanderers
Quelle
Auszug aus dem Reisegedicht eines Auswanderers
Bat mir zu Gnaden aus
Der Kaiserin zu dienen
Deßfalls war ich allda
Nach Rußland jetzt erschienen
Um diese Reis zu thun
Mit in das neue Land
Ich kam auch also gleich
In den Kolonistenstand.
Acht Schilling alle Tage
Bekam ich zu verzehren
Konnt gehen wo ich wollt
Hat mich an nichts zu kehren
So lebt ich 14 Tag
Ganz ruhig im Quartier
Allein da gings zu Schiff
Ein sehr betrübt Plamir
Da ward ein Jeder Mann
Mit Brofiant versehen
Und so nach Petersburg
Ins Schiff hinein zu gehen
Allein condrerer Wind
Macht uns die Reise schwer
Das Brofiant ging auf
Die Taschen wurden leer.
Sechs Wochen mußten wir
Die Wasserfahrt ausstehen
Angst, Elend, Hungersnoth
Täglich vor Augen sehen
Also daß wir zuletzt Salz–Wasser,
Schimmlich Brod
Zur Lebensunterhalt
Erhielten kaum zur Noth.
Bis diese Glücksstund kam
Oranienbaum zu sehen
Da thät ein jeder nun
Mit Freud vom Schiffe gehen
Quartierten 14 Tag
Uns in die Häuser ein
Von da nach Petersburg
Ja all zum Schiff hinein.
2 Ankunft in Russland
Am Ende der Schiffspassage erreichten die Siedler Petersburg, die damals noch relativ junge Metropole an der Newamündung. Einige der Kolonisten hofften, sich bereits hier, in einer europäisch geprägten Großstadt, ansiedeln zu können. Doch Katharina hatte andere Pläne mit ihnen: Sie wollte Bauern im Grenzgebiet, nicht Neubürger im Zentrum ihres Reiches. Die deutschen Aussiedler durften, als sie erstmalig russischen Boden betraten, den Treueid auf die Zarin leisten und blieben dann die gesamte Zeit, die sie in Petersburg verbrachten, unter strenger Beobachtung. Das Russische Reich hatte bereits viel Geld in diese Siedler investiert und wollte keinesfalls, dass sie sich unterwegs absetzten.
3 Der Weg an die Wolga
Von Petersburg reisten die Siedler weiter teilweise über Land, dann wieder mit Schiffen die Wolga hinunter. Schließlich erreichten die Auswanderer nach oft monatelanger Reise das Gebiet, das ihnen zum Siedeln zugewiesen worden war. Es lag an der mittleren Wolga in Südrussland, im heutigen Oblast Saratow. Hier sollten sie sich auf beiden Seiten des breiten Flusses niederlassen und das Land, das größtenteils aus Wäldern und Steppe bestand, erstmal überhaupt bearbeitbar machen.
Die Neuankömmlinge mussten im Schnelldurchlauf lernen, mit den Verhältnissen in ihrer neuen Umgebung klarzukommen. Häuser mussten errichtet werden – erst einfache Erdhütten, um den ersten harten Winter zu überstehen, später Dörfer und Kirchen. Auch auf die anstehenden Aufgaben der Landwirtschaft war nicht jeder gleich gut vorbereitet. Die Siedlerzüge bestanden ja nicht nur aus Bauern, sondern auch aus Schneidern, Frisören und Töpfern. Auch wenn deren Fähigkeiten für die Siedler zweifellos nützlich waren, hieß es in der ersten Phase der Ankunft für alle: Bau dein eigenes Essen an.
Erklärung
Berg- und Wiesenseite
Erklärung
Berg- und Wiesenseite
Die Wolga teilt das Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen in zwei Teile. Beiden Seiten der Wolga unterscheiden sich dabei landschaftlich. Während das rechte, westliche Wolgaufer eher hügelig ist, ist das linke, östliche Ufer eher flach. Die Siedler machten daraus die 'Bergseite' (westlich der Wolga) und die 'Wiesenseite' (östlich der Wolga). Berg- und Wiesenseite sind wichtige Ortsbezeichnung, die in Berichten über das Leben an der Wolga regelmäßig gebraucht werden. Sie werden dir in diesem Infoportal noch häufiger begegnen.
Darstellung 2
Wie ist das Wetter an der mittleren Wolga?
Darstellung 2
Wie ist das Wetter an der mittleren Wolga?
Über diesen Link findest du eine Website, die dir das aktuelle Wetter in Saratow zeigt, im Zentrum des ursprünglichen Siedlungsgebiets der Russlanddeutschen.
Galerie: Die mittlere Wolga
Darstellung 3
Die Berichte der ersten Siedler
Darstellung 3
Die Berichte der ersten Siedler
Die von den Kolonisten versendeten Briefe bordeten über vor Glück und Zufriedenheit. Außer den niedrigen Preisen für Brot, Butter, Rind- und Schweinefleisch, Fisch und praktisch alle Lebensmittel, des Weiteren für Pferde, Kühe und Geflügel, wurden auch die günstigen klimatischen Bedingungen gepriesen, die sogar an „die warmen Provinzen in Frankreich“ erinnern sollten. Und die benachbarten Kalmücken, Kasachen und Russen seien „die friedlichsten und gutherzigsten Völker“.
Darstellung 4
Ein Zeitungsartikel über das Siedlungsgebiet der ersten Ankömmlinge
Darstellung 4
Ein Zeitungsartikel über das Siedlungsgebiet der ersten Ankömmlinge
Die Wolgagegend [wurde] von den zahlreichen Agenten Russlands den Auswanderern in Wort und Schrift als ein wahres Paradies geschildert. In der Tat war aber das untere Wolgagebiet eine Wüstenei, die nur von wilden Nomaden und lichtscheuem Gesindel bewohnt wurde. Auf der Bergseite wirtschafteten in den dicht bewaldeten Schluchten und Gräben Wegelagerer und Seeräuber, die hauptsächlich aus den Kosakengebieten als Verbrecher hierher geflüchtet waren und hier Land- und Wasserstraßen von Kasan nach Astrachan unpassierbar machten. Im Süden herrschten über die jungfräuliche Steppe die Kalmücken, die die angrenzenden Dörfer und Städte bis nach Woronesch und Tambow hinauf in Furcht hielten und Zeit zu Zeit auch überfielen. Noch schlimmer sah es auf der Wiesenseite der Wolga aus. Dort wanderten die Kirgisen mit ihren Horden von Ort zu Ort und wehrten sich auf Tod und Leben gegen jeden Versuch der russischen Regierung, dort militärische Vorposten oder friedliche Bauernsiedlungen zu gründen. Dieses Gebiet sollte nun die Kolonisten besiedeln.
4 Zusammenfassung
Auf dieser Seite geht es um die Frage, wie die Kolonisten überhaupt in ihr Siedlungsgebiet kamen.
Zunächst reisten die Siedler auf dem Landweg nach Lübeck, von dort mit dem Schiff über die Ostsee in die russische Metropole Petersburg. Die Siedler wurden auf dieser Reise gut bewacht, damit sie nicht umdrehten oder sich frühzeitig z. B. in Petersburg niederließen.
Von Petersburg aus ging es auf dem Landweg an die obere Wolga und dann mit Flussbarken den Fluss hinunter zum Siedlungsgebiet im heutigen Oblast Saratow.
Im Siedlungsgebiet stellten die Kolonisten schnell fest, dass nicht alles so paradiesisch war, wie es ihnen beschrieben worden war. Die wilden Steppen und Wälder, harten Winter und räuberischen Nachbarn stellten die Siedler in ihren Anfangsjahren vor große Herausforderungen.