Die deutschen Kolonisten waren von Katharina der Großen nach Russland geholt worden, damit sie das Land bearbeiteten und sicherten und das Russische Reich wirtschaftlich voranbrachten. Dass die Deutschen dabei irgendwann zu Russen werden würden, war nicht vereinbart worden und Katharina (die übrigens selbst gebürtige Deutsche war) war das wahrscheinlich auch egal gewesen. Katharinas Nachfolger, Alexander II. und Alexander III., änderten nun aber die Abmachung einseitig. Warum taten sie das, und welche Auswirkungen hatte das für die deutschen Siedler?
Telegraphenapparat Zar Alexanders II. aus deutscher Produktion (Siemens & Halske). Der russische Herrscher interessierte sich für politische Reformen, Technik, moderne Verwaltung.
Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkten viele Politiker und Militärführer in Russland, dass ihr Land gegenüber den anderen europäischen Großmächten ins Hintertreffen zu geraten drohte. Auslöser für diese Erkenntnis war der für Russland ungünstig verlaufene Krimkrieg (1853–1856). Die Rückständigkeit beschränkte sich nicht nur auf das Militär. Während sich andere Mächte, wie Frankreich und Großbritannien, zu modernen Nationalstaaten entwickelt hatten, war Russland teilweise noch von mittelalterlichen Verhältnissen geprägt. Die Bauern waren unfreie, von ihren adeligen Landbesitzern abhängige Leibeigene und die Städte entwickelten sich nur langsam. Außerdem empfanden sich die Russen nicht als Russen. Sie sahen sich als Untertanen des Zaren und ihrer Fürsten, aber sie hatten – anders als beispielsweise die Franzosen – nicht das Gefühl, das einheitliche Volk eines einheitlichen russischen Staates zu sein. Sie sahen in einem solchen Staat keinen besonderen Wert, für den sie kämpfen und im Notfall auch sterben wollten. Der Zar Alexander II. wollte daran etwas ändern.
Im Krimkrieg musste das russische Militär die Erfahrung machen, mit den anderen europäischen Mächten nicht mehr mithalten zu können. Der Krieg, in dem Russland erst gegen das türkische Osmanische Reich und später auch gegen Frankreich und Großbritannien kämpfte, endete mit einer russischen Niederlage. Das Gemälde „Die dünne rote Linie" von Robert Gibb zeigt eine britische Einheit im Kampf gegen russische Kavallerie, es stammt von 1881.
England und Frankreich hatten ihre Armeen im 19. Jahrhundert aufwändig modernisiert und an die Möglichkeiten des neuen industriellen Zeitalters angepasst. Dieses eisengepanzerte und von Dampf getriebene französische Kanonenboot kämpfte gegen russische hölzerne Segelschiffe.
Das war das Ergebnis: Die russische Festung Sewastopol auf der Halbinsel Krim wurde von den europäischen Kriegsgegnern monatelang belagert und beschossen. Die Belagerung von Sewastopol kostete auf beiden Seiten viele Tausend Menschenleben.
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Urheber: Coloured lithograph by C. Haghe, 1855, after W. Simpson.
Der gesamte Krimkrieg kostete auf beiden Seiten mehrere Zehntausend Menschenleben. Das Gemälde zeigt Soldaten an einem ausgehobenen Grab am Hafen von Balaklava.
Galerie: Krimkrieg
2 „Er fühlte sich wie ein Holzfäller im russischen Wald. Fällen, ausschneiden, lichten.“ – Zar Alexander II. reformiert das Land
Alexander II. war von 1855 bis 1881 Zar von Russland.
Um sein Land aus der Rückständigkeit zu führen, erließ der Zar Alexander II. zahlreiche Reformgesetze. Sein Ziel war ein effizienteres Wirtschaftssystem, ein ausgebautes Schul- und Universitätswesen und ein schlagkräftiges Militär. Er orientierte sich dabei vor allem an Preußen, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgreich modernisiert hatte, dabei aber eine traditionelle Monarchie geblieben war (anders als zum Beispiel Frankreich).
Alexander schaffte die traditionellen Feudalbeziehungen auf dem russischen Land ab und ‚befreite‘ die vielen Millionen leibeigenen russischen Bauern. Er modernisierte die Verwaltung sowie das Bildungs- und Justizwesen. Aber Russland war ein großes Reich und viele von Alexanders Reformen trafen auf Widerstand bei denjenigen, die mit dem alten System gut gelebt hatten, beispielsweise die adeligen Großgrundbesitzer. So konnten nicht alle Träume Alexanders verwirklicht werden, aber durch seine Reformen änderte sich das Leben in Russland spürbar.
(Zitat in der Überschrift: Henri Troyat, Zar Alexander II., Frankfurt am Main, 1991, S. 97.)
Die Reformen in Russland: zum Vor- oder zum Nachteil für die Russlanddeutschen?
Die Abschaffung ihrer Sonderstellung hat die deutschen Siedler aus der erzwungenen Isolation befreit und damit eine ungeahnte wirtschaftliche und soziokulturelle Dynamik ausgelöst – man vergleiche nur die Bevölkerungszahl oder die Größe des Landbesitzes zu Zeiten der staatlichen Sonderverwaltung mit solchen aus dem Jahr 1914. Ihr gesamter Landbesitz wuchs von etwa 2,1 Millionen ha im Jahr 1864 auf ca. 8 Millionen ha. Fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte im damaligen Schwarzmeergebiet wurden von Betrieben in ehemaligen deutschen Kolonien oder solchen mit russlanddeutschen Inhabern hergestellt. In den Händen deutscher Siedler an der Wolga lagen wichtige Industriezweige wie die Mühlen- oder Textilindustrie. In der russischen Wein- und Cognacproduktion spielten die schwäbischen Kolonien im Transkaukasus eine beispielgebende Rolle.
Was ist eigentlich das Besondere an einem Nationalstaat?
Heute erscheint uns das ganz normal und selbstverständlich: Es gibt Staaten und in diesen Staaten leben Bürgerinnen und Bürger, die sich alle als gleichberechtigte Mitglieder der Bevölkerung empfinden. Sie erwarten gewisse Dinge von diesem Staat, z. B. Schulbildung und Sozialversorgung. Und sie akzeptieren, dass der Staat Dinge von ihnen erwartet, z. B. Steuern oder Wehrdienst.
So ist es aber noch nicht sehr lange. Die Idee eines solchen Nationalstaats hat sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelt.
Vor der Erfindung dieses Nationalstaats lebten die Menschen in persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten, z. B. in der Feudalordnung. In der Feudalordnung hat jeder Mensch ganz konkrete Personen, die für ihn zuständig sind, auf die er achten muss, die sein Leben bestimmen. Ein Bauer ist von seinem Grundbesitzer abhängig, dieser hat über sich einen höher gestellten Adeligen, und über diesen ist dann vielleicht der König gestellt. Herrschaft wird zwischen diesen Personen ausgeübt.
In einer solchen Ordnung konnte eine Herrscherin wie Katharina II. natürlich auch sagen: ‚Die deutschen Siedler hole ich ins Land und unterstelle sie direkt mir selbst und meinen Beamten. Ich lege fest, welche Rechte und Pflichten sie haben, und das hat mit den anderen Bauern meines Landes nichts zu tun, denn ich entscheide. Und für die anderen Bauern sind ja deren Adlige zuständig.‘
In einem Nationalstaat sollten sich die Menschen aber nicht auf einen einzelnen Adligen oder den König beziehen, sondern sich als Teil einer großen einheitlichen Gemeinschaft fühlen und handeln.
Ein zweisprachiger Taufschein aus dem Jahr 1901 – links ist er auf Deutsch, rechts auf Russisch beschriftet.
In dem Russland, das sich Alexander II. wünschte, war für deutsche Siedler, die auch gerne ihre kulturellen deutschen Eigenarten und Privilegien behalten wollten, kein Platz. Die russische Regierung wollte einen einheitlicheren Staat schaffen. Daher galt: Wer an der Wolga sein Land bestellte und Gewerbe trieb, der sollte Russe sein. Und wenn er das noch nicht war, musste er es schnell werden.
Zunächst wurden den Siedlern ihre von Katharina zugesicherten Privilegien gestrichen. Ihre Dörfer wurden in die russische Verwaltung eingegliedert, ihr Schul- und Kirchenwesen durften sie nicht mehr unabhängig, sondern nur noch in Absprache mit den russischen Behörden gestalten. An die Schulen wurden russische Lehrer geschickt. Diese sollten dafür sorgen, dass die Siedler die russische Sprache lernen. Das hatten sie in der Vergangenheit nur selten getan.
Besonders hart traf die Siedler aber der Beschluss von 1874, in dem festgelegt wurde, dass sie von nun an auch Dienst in der russischen Armee zu leisten hatten. Das bedeutete, sechs Jahre lang irgendwo in Russland beim Militär zu dienen und danach neun Jahre lang als Reservist im Kriegsfall jederzeit wieder eingezogen werden zu können. Für jede Bauernfamilie war es ein schwerer Schlag, die Arbeitskraft ihrer Söhne für so lange Zeit zu verlieren. Eine Katastrophe war diese Entscheidung für die strenggläubigen pazifistischenMennoniten unter den Siedlern. Sie lehnten jede Form von Militärdienst aus religiösen Gründen ab. Und nach Russland waren sie gekommen, weil ihnen Katharina II. die Befreiung von jeglichem Militärdienst zugesichert hatte.
Eine gesetzliche Ausnahme ermöglichte es den Mennoniten, statt Militärdienst zivile Arbeit zu leisten. Das Bild zeigt Männer in einem Waldarbeiterlager bei Anadol in der Ostukraine.
Durch das Gesetz vom 16. Juni 1871 wurde die Selbstverwaltung der Kolonien aufgehoben und diese der allgemeinen Verwaltung unterstellt. Am 1. Januar 1871 wurde von Alexander II. die Wehrpflicht für alle Bürger Russlands auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht eingeführt. Jetzt hatten die Kolonisten nicht nur ihren Kolonistenstand verloren, sondern auch alle ihre früheren Rechte, wie Wehrlosigkeit und Selbstverwaltung. 1891, in der Regierungszeit von Kaiser Alexander III., wurde die russische Sprache als Unterrichtssprache Pflicht. In den Kirchenschulen dürften nur noch Lehrer unterrichten, die das russische Lehrerexamen ablegten.
Beschwerde des Kommandanten des Moskauer Militärbezirks über die russlanddeutschen Rekruten (1901)
Die in den Truppenteilen meines Militärbezirks einberufenen deutschen Kolonisten zeichnen sich durch völlige Unkenntnis der russischen Sprache aus, die sie auch während ihrer Dienstzeit sehr mäßig studieren. Dies wirkt schädigend auf die Ausbildung der jungen Soldaten. Selbst Tscheremissen sprechen besser russisch als die deutschen Kolonisten. Es wäre recht wünschenswert, dass die lokale Verwaltung dem Studium der russischen Sprache mehr Aufmerksamkeit schenkt. Viele von diesen bestehen seit mehr als hundert Jahren in Russland, aber die Kolonisten wollen sich keineswegs die Sprache unserer Heimat aneignen, die ihnen eine solch großartige Gastfreundschaft gewährt hat.
Durch das Ministerium der Volksaufklärung, dem die Kolonialschulen seit 1881 unterstellt worden waren, erging 1891 an die Küster-Schulmeister die Vorschrift, binnen zweien Jahren sich für das russische Volksschullehrerexamen vorzubereiten und dann gleichzeitig in den Schulen mit dem Unterricht der russischen Sprache zu beginnen. Als eine große Anzahl von Schulmeistern wegen mangelhafter Kenntnis des Russischen unmöglich diese Forderung erfüllen konnte und als diese durch das kirchliche und Schulamt und die übergroße Schülerzahl über alles Maß hinaus überbürdeten Schulmänner nur geringe Resultate im Russischen in ihren Schulen aufweisen konnten, wurden die Gemeinden gezwungen, einen besonderen Lehrer für russische Sprache, Rechnen und Schreiben aus eigenen Mitteln anzustellen. Den widerstrebenden Gemeinden wurden durch Schul- und Polizeibehörden die Kirchenschulen geschlossen und sogar der durch den Schulmeister während des Winters zu erteilende Konfirmantenunterricht mit den 14- und 15-jährigen Knaben und Mädchen untersagt, so lange die Gemeinden sich nicht willig erzeigten zur Anstellung eines russischen Lehrers.
Manche der Siedler, gerade die strenggläubigen Mennoniten, wollten sich dem Militärdienst nicht beugen. Sie hatten Deutschland verlassen, um nicht Soldaten werden zu müssen. Nun fassten viele den Entschluss, auch Russland zu verlassen. Der Zar wollte sich nicht mehr an die Zusagen seiner Vorgängerin Katharina II. halten, also sahen auch sie keinen Grund mehr, weiter unter russischer Obrigkeit zu leben.
Einige von ihnen suchten in Zentralasien, etwa in Kirgisistan und Usbekistan, eine neue Heimat. Andere wanderten nach Übersee, vor allem nach Argentinien, Paraguay, Brasilien und Kanada aus. Dort gründeten sie neue Kolonien, die teilweise bis heute bestehen.
Die russische Regierung war gegen diese Auswanderungen. Trotz der Reformgesetze zur Steigerung der Leistungsfähigkeit Russlands und der nationalen Identität seiner Bewohner wollten die Behörden die Siedler im Land halten. Immer noch waren sie für die Modernisierung Russlands wichtig. So versicherten die Behörden den Mennoniten bald, dass sie in der Armee keine Waffen tragen müssten, sondern lediglich als Handwerker oder Sanitäter eingesetzt werden würden.
Zwischen 1870 und 1917 gab es große Auswanderungswellen aus vielen europäischen Ländern auf die amerikanischen Kontinente. In den Vereinigten Staaten und dem Westen Kanadas gründeten die Auswanderer neue russlanddeutsche Gemeinden. Viele Familien zogen in die Great Plains im Mittleren Westen der USA, die landschaftlich den Steppen Russlands ähneln. Hier siehst du ein provisorisches Übergangsquartier für Russlanddeutsche aus dem Wolgagebiet in Kansas, USA, 1875.
Anders als die meisten Migranten in die USA wollten die Russlanddeutschen dort weiterhin hauptsächlich in der Landwirtschaft arbeiten. Diese konservativen Mennoniten verrichten die Feldarbeit ganz ohne moderne Maschinen, Pennsylvania, USA, 1941.
Außer nach Nordamerika wanderten viele Russlanddeutsche auch in mittel- und südamerikanische Länder aus und bildeten dort eigene kleine Gemeinschaften, die ihre Kultur, Sprache und Religion zu wahren suchen. Für konservative Glaubensgemeinschaften boten und bieten sich hier Möglichkeiten, einen traditionellen Lebensstil ohne Maschinen zu führen, wie diese Mennoniten in San Ignacio, Paraguay.
Die größten mennonitischen Gemeinden finden sich in Mexiko, Bolivien, Paraguay und Belize. Diese Männer fischen auf dem New River im zentralamerikanischen Belize.
Alexanders Reformen – Vertragsbruch oder Gleichheitsversprechen?
Aus Sicht der deutschen Kolonisten waren Alexanders Reformen eine Frechheit. Die Versprechen, die Katharina die Große gemacht hatte, wurden von ihrem Nachfolger einfach ohne Erklärung und Entschädigung einkassiert. Dabei war man doch gerade wegen der Versprechen auf kulturelle und religiöse Eigenständigkeit sowie Befreiung vom Militärdienst nach Russland gekommen!
Für Alexander (und die meisten Russen) sah die Sache anders aus. Er verlangte von den deutschen Kolonisten nichts, was er nicht auch von seinen anderen Untertanen verlangte. Das einzige, was seine Reformen beendeten, war die jahrzehntelange Ungleichbehandlung der deutschen Kolonisten. Und war der Anspruch etwa ungerecht, dass Menschen, die in Russland lebten, in der Lage sein sollten, mit ihren Nachbarn und der Verwaltung in der Landessprache zu sprechen?
Aus unserer heutigen Sicht war die Politik Alexanders gegenüber den Kolonisten nicht ungerecht, sondern den Ansprüchen, die ein Staat an seine Bürger stellt, angemessen. Und hätte diese Politik Erfolg gehabt, wären aus den deutschen Kolonisten russische Bürger deutscher Herkunft geworden – mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten. Dass es dazu nicht kam, lag nicht an Alexander oder den Kolonisten, sondern an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Alexander II. wollte aus Russland einen modernen Nationalstaat machen. Er wollte die mittelalterlichen Verhältnisse im Land modernisieren und aus seinen Untertanen russische Staatsbürger machen. Die deutschen Siedler sahen sich aber nicht als Russen, sondern als deutsche Untertanen eines russischen Herrschers.
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Urheber: unbekannt, Gerhard Lohrenz, Heritage Remembered, p. 240.
Die Russlanddeutschen sollten ab jetzt Russisch lernen und wie ihre Nachbarn beim russischen Militär dienen. An ihren Dorfschulen sollten staatlich gestellte Lehrer unterrichten. Die deutschen Siedler empfanden das als ungerecht, denn ihnen war Militärdienstbefreiung zugesichert worden, sie hatten ihre Schulen selbst organisiert und in ihren Dörfern sprachen sie nur deutsch.
Ende des 19. Jahrhunderts wandern daher die ersten Deutschen aus ihren russischen Siedlungsgebieten wieder aus. Vor allem die pazifistischen Mennoniten fliehen vor dem russischen Militärdienst. Ihr Ziel ist häufig Nord- und Südamerika, aber auch Zentralasien.