Die Russlanddeutschen waren nicht die einzigen Siedler, die sich im 18. Jahrhundert in Europa auf den Weg in eine bessere Zukunft machten – im Gegenteil. Diese Zeit war eine Hochzeit europäischer Migration. Ständig verließen Menschen ihre alte Heimat, um an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen. Und das Heilige Römische Reich war – mitten in Europa gelegen – häufig Ziel oder Ausgangspunkt solcher Siedlungsströme.
1 Kolonistenbewegungen in der Alten Welt
Im 18. Jahrhundert gab es mehrere Kolonistenbewegungen in Europa. In
den Regierungen der Herrscher verbreitete sich der Gedanke, dass es
große Vorteile haben konnte, wenn man im eigenen Land Menschen aus
anderen Ländern ansiedelte, die loyal zum Herrscher standen, ihre
Religion frei ausüben konnten und in der Lage waren, mit ihren
beruflichen Fähigkeiten die Wirtschaft zu stärken.
Von Frankreich nach Hessen
Landgraf Karl von
Hessen-Kassel holte Hugenotten ins Land, also französische Protestanten, die im katholischen Frankreich verfolgt wurden. 1688 legte er z. B. selbst den
Grundstein für die Oberneustadt in Kassel. Dort und in 19 weiteren Orten
ließen sich in der Landgrafschaft Hugenotten nieder. Auch sie bekamen
ähnliche Zusicherungen, wie sie später die Auswanderer nach Russland erhielten. In Kassel siedelten sich schließlich etwa 2.000 Hugenotten an, im ganzen Land 4.000. In Carlshafen (Bad Karlshafen)
sollte sogar eine neue Fabrik- und Handelsstadt entstehen.
Der
Landesherr beförderte diese Einwanderungen mit Nachdruck. Denn noch
immer waren als Folge des Dreißigjährigen Krieges weite Teile des Landes
nur dünn besiedelt. Es fehlte insbesondere an Handwerkern und
Fachleuten aller Art. Gerade diese Leute kamen jetzt ins Land:
Manufakturspezialisten, Handwerker, Architekten, Wissenschaftler. So
etwa die Baumeisterfamilie du Ry, die ihre Spuren etwa mit dem
Fridericianum in Kassel und in Wilhelmshöhe hinterlassen hat.
Von Frankreich nach Brandenburg
Kurfürst
Friedrich Wilhelm von Brandenburg holte 1685 mit dem Edikt von Potsdam
ebenfalls französische Hugenotten ins Land. In Brandenburg, wo die
protestantische Konfession galt, mussten sie keine Verfolgung
befürchten. Etwa 20.000 dieser Hugenotten siedelten sich in Brandenburg
an und trugen auch dort zu einem wirtschaftlichen und kulturellen
Aufschwung des Landes bei. Sie etablierten beispielsweise den
Tabakanbau, beförderten die Seidenproduktion und bauten neue Siedlungen.
Von Frankreich nach Franken
Auch Markgraf
Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth holte Hugenotten in sein
Territorium. In Erlangen entstand sogar eine neue Stadt für diese
zugewanderten Glaubensflüchtlinge. Der Baumeister des Markgrafen bekam
den Auftrag, eine „Idealstadt“ zu errichten: breite regelmäßige Straßen
statt krumme dunkle Gassen. Der Landesherr interessierte sich dabei vor
allem für Handwerker und Fabrikunternehmer. Die Privilegien, die er den
Einwanderern anbot, sind denen der russischen Zarin Katharina für die
Russlanddeutschen ebenfalls ziemlich ähnlich: Darunter waren
Steuerbefreiungen und Darlehen für Betriebsgründungen sowie natürlich
das Recht, die eigene Religion ungehindert ausüben zu können.
Von Böhmen nach Sachsen oder Brandenburg
Protestanten
aus Böhmen, die sogenannten böhmischen Exulanten, wanderten ebenfalls
in verschiedene Regionen aus, viele nach Sachsen und Brandenburg. Man
schätzt, dass es bis zu 150.000 Menschen waren, die sich auf den Weg
machten, um einen neuen Ort zu finden, an dem sie leben konnten. Auch sie
beeinflussten mit spezifischen Fähigkeiten und mit ihrem Aufbaufleiß die
Wirtschaft der Regionen, in die sie gingen. Der Musikinstrumentenbau im
Vogtland in Sachsen wurde beispielsweise von den Einwanderern aus
Böhmen sehr stark geprägt. Und auch die (Neu-)Besiedlung spielte eine
große Rolle. So entstanden in Brandenburg etwa 900 Kolonistendörfer.
2 Beispiel für die Auswanderung nach Osten: die Donauschwaben
Kriegszerstörte Länder, vernichtete Siedlungen, öde Gegenden – Was tun?
Das Bild am Beginn dieses Abschnitts zeigt sogenannte Donauschwaben,
die mit ihren Booten, die man Ulmer Schachteln nennt, die Donau hinab
fuhren, um sich in Südosteuropa anzusiedeln. Wie kam es dazu?
Nach
den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts fielen riesige Gebiete an die
Habsburger, nur waren sie nahezu menschenleer. Viele Siedlungen waren
zerstört und die Menschen gestorben oder geflohen. Wie sollte die
Zukunft dieser Länder aussehen?
Türkenkriege im 17. Jahrhundert
Ein riesiges Land wird erobert, aber nach einem Krieg kann man nicht einfach weitermachen wie vorher.
Türkenkriege im 17. Jahrhundert
Ein riesiges Land wird erobert, aber nach einem Krieg kann man nicht einfach weitermachen wie vorher.
Im Jahr 1683 standen osmanische Truppen vor Wien, um es zu erobern.
Ihr Feldzug misslang. Das steht in jedem Schulbuch. Was nicht mehr jeder
weiß: Der Krieg zwischen christlichen und osmanischen Heeren ging
weiter. Und er führte dazu, dass die Osmanen immer weiter aus
Südosteuropa verdrängt wurden. 1686 wurden die Osmanen aus Buda, der
Hauptstadt Ungarns, vertrieben, 1688 aus Belgrad. Riesige Gebiete, u. a.
das Banat und die Batschka, wurden zu Einflussgebieten des Habsburgischen
Herrscherhauses.
Diese Gebiete aber waren zu einem großen Teil als
Folge der Kriegszüge entvölkert. Viele Menschen waren gestorben,
geflohen oder in andere Gegenden gegangen. Viele Städte und Dörfer waren
zerstört. Die wirtschaftliche Struktur war zusammengebrochen. Menschen
zogen sich in schwer zugängliche Gebiete wie Sümpfe, Wälder oder Gebirge
zurück. Felder wurden kaum noch bebaut. Die überlebenden Bauern
bewirtschafteten, was gerade nötig und möglich war. Die freien Flächen
wurden, wenn überhaupt, nur noch zur Weidewirtschaft genutzt.
Menschenleere
Bevölkerungsverluste durch die Türkenkriege und wirtschaftlicher Niedergang
Menschenleere
Bevölkerungsverluste durch die Türkenkriege und wirtschaftlicher Niedergang
Die Komitate Baranya und Tolna waren bis zum 15. Jahrhundert eine der am dichtesten besiedelten und reichsten Gegenden Ungarns. Im Jahre 1495 gab es in den 922 Dörfern und 27 Städten der Baranya 15.018 Steuerzahler, die 9.042 Forint bezahlten. In der Tolna entrichteten die Steuerzahler in 540 Dörfern und 21 Städten 10.031 Forint. 1696 hatte das Komitat Baranya nur 110 bewohnte Orte mit 2.554 Steuerzahlern. Im Komitat Tolna waren lediglich 28 Orte bewohnt, wo man 488 ungarische und 459 serbische Steuerzahler registrierte. In den nördlichen Gebieten Ungarns begann bereits während des 15. Jahrhunderts die Entvölkerung, als die Türken Ungarns Grenzen bedrohten. Vor der türkischen Eroberung flüchtete die Bevölkerung nach Norden. [...] Im Banat fand man 1688 südlich der Linie Donau-Marosch keine ungarische Siedlung mehr, nicht einmal in den Sumpf- und Überschwemmungsgebieten.
Am Wiener Hof wurde beschlossen, die von den Osmanen eroberten, zum
großen Teil menschenleeren Gebiete wieder zu besiedeln. Diese
Wiederbesiedlung geschah durch staatliche und auch private Initiativen.
Der Domherr des Erzkapitels von Esztergom und Abt Ferenc Jany etwa holte
zum Beispiel über einen Agenten in Augsburg etwa 30 Familien aus der
Augsburger Gegend auf die Güter seiner Abtei in Pécsvárad (Petschwar).
Auf
den zum Teil riesigen Gütern der Adligen, der hohen Offiziere,
Armeelieferanten und sonstigen Kriegsgewinner, die man aus Mangel an
Geld für ihre Dienste oftmals mit Ländereien bezahlte, wurden viele
Menschen angesiedelt. Prinz Eugen, der den Feldzug gegen die Osmanen
angeführt hatte und als großer Kriegsheld galt, ließ Siedler auf sein
Gut Belje kommen, ebenso wie die Familie Esterházy, die 1687 vom
Kaiser in den Fürstenstand erhoben worden waren.
„Schwabenzüge“
In drei größeren Wanderungswellen, den sogenannten Schwabenzügen,
siedelten sich vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts etwa
150.000 Menschen in den sogenannten Ländern der Ungarischen Krone an.
Auch im 19. Jahrhundert ging die Einwanderung weiter.
Die deutschen
Aussiedlungswilligen kamen oft aus dem süd- und südwestdeutschen Raum.
Sie machten sich aus Schwaben, der Pfalz, Rhein- und Mainfranken auf den
Weg nach Südosteuropa, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen.
Im
Banat wurden während des ersten Schwabenzuges fast 60 deutsche Dörfer
gegründet. Mit 23.000 waren die Menschen aus deutschen Landen zu jener
Zeit dort die größte Einwanderungsgruppe. Und im Gegensatz zu anderen
Siedlern etwa aus Italien und Frankreich, die ihre Schwierigkeiten mit
Boden und Klima nicht bewältigen konnten, blieben sie auch.
Die
Siedler des Ersten Schwabenzugs waren überwiegend katholisch.
Protestanten wurden vor die Wahl gestellt, die Konfession zu wechseln
oder von der Siedlung ausgeschlossen zu werden. Viele von ihnen ließen
sich als Arbeitskräfte trotzdem anwerben. Die Religion war in dieser
Zeit ein wichtiger Aspekt, wichtiger als regionale Herkunft oder andere
kulturelle Eigenarten.
Der erste Beauftragte für die Übersiedlung, Graf Claudius Florimund Mercy, kümmerte sich als Gouverneur des Banats intensiv um die Anwerbung. In Trier und Speyer, aber auch in Darmstadt und Fulda wurden Menschen geworben. Werberbüros verhandelten über die Freigabe der Siedlungswilligen durch ihre Herren, halfen bei der Ausstellung der Pässe und organisierten die Reisen.
Bedingungen und Kosten der Übersiedlung während des ersten großen Schwabenzugs (1722–1726)
Bedingungen und Kosten der Übersiedlung während des ersten großen Schwabenzugs (1722–1726)
Übersiedlungswillige Kolonisten mussten nachweisen, über 200 Gulden
(1 Gulden = ca. 50 Euro) zu verfügen und persönlich frei zu sein. Die
Reisekosten vom alten Wohnort bis nach Wien hatten die Siedler selbst zu
bestreiten. Die Kosten der Reise von Wien bis zum Ansiedlungsort wurden
hingegen von den österreichischen und ungarischen Behörden oder den
Grundherren der Ansiedlungsgebiete übernommen. Eheleute bekamen
dabei während der Reise täglich 12, Alleinstehende nur 6 Kreuzer.
Zur
Errichtung von Häusern bekamen die Siedler Kredite, die sie nur zum
Teil zurückzahlen mussten. Die Bauern mussten drei Jahre lang gar keine
Abgaben zahlen, später waren die üblichen Leistungen fällig. Ihnen wurde
– beginnend nach drei Jahren – die Zahlung einer gewissen Summe an die
Staatskasse auferlegt.
Für die Etablierung ihrer Wirtschaft und
ihrer Siedlung bekamen sie Baugrund, Weideland, Ackerflächen (24 Joch =
1035 Ar) sowie Bauholz, Wirtschaftsgeräte und Haustiere.
Eine gefährliche Reise
Für
die Reise in die neuen Siedlungsgebiete bot sich gerade für
Kolonisten aus Süddeutschland der Weg über die Donau an. Viele kamen in
die am Fluss gelegenen Städte wie Ulm oder Regensburg, um die gefährliche
Reise per Boot zu beginnen. Ulm profitierte davon wirtschaftlich sehr
stark. Bald gab es einen regelmäßigen Schiffsbetrieb. Die Reisenden
hatten nicht nur viele Formalitäten zu bewältigen, oft ging ihnen auch
unterwegs das Geld aus, in den Lagerplätzen grassierten Krankheiten und
der Fluss war ebenfalls an vielen Stellen gefährlich. Viele Kolonisten
überstanden die Strapazen nicht oder mussten die Reise abbrechen. Viele
aber kamen auch in ihre neuen Siedlungsgebiete, von der Hoffnung auf
ein besseres Leben getragen. Der Schriftsteller Ernst Moritz
Arndt schrieb im 18. Jahrhundert: „Diese armen Schwaben gehen häufig als
Kolonisten ins Banat, und träumen da goldne Berge.“1
Reise im Schiff die Donau hinab
Ein beobachtender reisender Schriftsteller berichtet
Reise im Schiff die Donau hinab
Ein beobachtender reisender Schriftsteller berichtet
Die Menschen haben [auf dem Boot, M.V.] zwey Abtheilungen: die am hinteren Ende , das eben so gut, als das vordere ist, sitzen, zahlen bis Wien zwey, die andern vier bis fünf Gulden. Da sitzt und liegt und staht alles über und unter einander [...] zum Glück hat man das Verdeck, wenn es nicht regnet; sonst würden Hitze und Ausdünstungen es ganz unausstehlich machen.
Auswanderung per Schiff
Wie muss man sich diese Boote vorstellen? Beispiel: die Zillen
Auswanderung per Schiff
Wie muss man sich diese Boote vorstellen? Beispiel: die Zillen
Die Zillen waren für ihren spezifischen Zweck konstruierte Wasserfahrzeuge: sehr leicht in ihrer Bauart und flach, so dass sie nicht tief ins Wasser der Flüsse einsanken. Damit waren sie viel weniger der Gefahr ausgesetzt, auf Grund zu laufen und für die Fahrt flussabwärts besonders geeignet. Trotzdem blieb die Fahrt ein Abenteuer. Oftmals waren die Zillen auch nur schnell und behelfsmäßig gebaut. Sie waren auch nicht geteert. Das hatte den Vorteil, dass man sie an Ort und Stelle auseinander bauen und das Holz weiterverwenden konnte. Nicht selten bauten die Kolonisten mit den Brettern und Stämmen im Banat oder in der Batschka ihre neuen Häuser.
Ein "Inpopulationspatent" wird erlassen
Einwanderer sollen nach Ungarn gelockt werden
Ein "Inpopulationspatent" wird erlassen
Einwanderer sollen nach Ungarn gelockt werden
Am 11. August 1689 erließ die von Kaiser Leopold I. zur Erarbeitung von Lösungen für die schwierige Situation nach den Türkenkriegen eingesetzte Hofkommission in Wien eine wichtige Regelung. Man kann sie als eine Art Gesetz zur Wiederbesiedlung ("Inpopulationspatent") bezeichnen. In diesem Patent wurden Siedlern folgende Versprechen gemacht:
- niedrige Grundstückspreise
- erblicher Besitz von Land und Gebäuden
- Mautbefreiung beim Import von Baumaterialien
- Steuerfreiheit für drei Jahre (inländische Kolonisten) oder für fünf Jahre (ausländische Kolonisten)
- freier Wegzug
Außerdem sollten Handwerksbetriebe, der Bergbau und das Manufakturwesen gefördert werden.
Creatio ex nihil: Das Leben der Siedler oder: „Die ersten fanden den Tod, die zweiten hatten die Not, die dritten erst das Brot.“
Das Leben der Donauschwaben in den Dörfern war geprägt von den
Pflichten und Zeitvorgaben der Landwirtschaft. Sie brachten neue
Wirtschaftsweisen und Lebensgewohnheiten mit in ihre neue Lebensregion. Die
Verbreitung des Weinbaus, die Haltung der Tiere auch in Ställen, neue
Techniken des Hausbaus – oftmals ging dies auf die Kolonisten zurück.
Man sagt, dass Werte wie Fleiß, Sparsamkeit, Zielstrebigkeit und
Unternehmergeist die Kolonistengemeinschaften prägten. Das ist nicht
untypisch für Siedler, die sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen
wollen. Im Geschlechterverhältnis war charakteristisch, dass die Frauen
bei allen Aufgaben in Haus, Stall und Feld mitarbeiteten.
Die Trachten der Donauschwaben sind sehr von den regionalen Herkünften der Kolonisten bestimmt. Oftmals sind bei den Frauen Hüftröcke mit vielen Unterröcken markant. Darüber trifft man weiße Blusen, bestickte Jacken und Tücher an. Männer trugen oft weiße Hemden, schwarze Westen und Hüte. An den Füßen trug man oft Patschker – verzierte, gestrickte Schuhe.
Die Dörfer errichteten die Kolonisten an landschaftlich geschützten
Orten, wo es ging. Zumeist suchten sie nach einer Kombination von
fruchtbaren Böden sowie ausreichend Wasserversorgung durch Bäche und
Flüsse. Sehr oft wurden Straßendörfer errichtet, an denen sich die
Gehöfte links und rechts der durch den Ort gehenden Straße aufreihten.
Garten- und Weideland befand sich dann hinter den Häusern und
gewissermaßen zwischen den Hausreihen.
Im 18. Jahrhundert wurden,
der vernunftorientierten Weltsicht der Aufklärung entsprechend, auch
sehr regelmäßig angelegte Siedlungsformen geschaffen, sogenannte
Schachbrettdörfer. Das Zentrum der Dörfer bildeten natürlich die Kirche
(oft in einem verspäteten Barock, dem sogenannten Siedlerbarock gebaut),
das Schulgebäude sowie der Ort des gemeinschaftlichen Treffens und
Feierns, das Gasthaus. Ausgehend von den ersten Siedlungshäusern
entstanden zwei Grundtypen des Hausbaus, das Klein- und das
Langhaus. Das Kleinhaus umfasste einen Wohnbereich, eine Kammer, Küche
und Stall. Das Langhaus zog sich etwas mehr in die Länge, war
unterkellert und hatte oftmals an der Seite einen Laubengang. Die
Siedler zeigten ihre christliche Religion, etwa indem sie Wegkreuze
errichteten, wenn sie der katholischen Konfession angehörten.
Die Siedlungsdörfer verfügten über eine Selbstverwaltung. Das betraf
auch Kirche und Schule. Zwar benannte bei den Katholiken der Bischof den
Priester, die weltlichen Kirchendiener aber wurden durch die Gemeinde
bestimmt. Zunächst herrschte tatsächlich ein erheblicher Mangel an
Geistlichen, da nur wenige Pfarrer aus den Herkunftsgebieten
mit auswanderten. Daher kamen die Geistlichen anfangs aus schon
bestehenden deutschen Siedlungen, etwa aus dem Burgenland. Schulen
wurden von den Gemeinden betrieben. Die Lehrer wurden überwiegend in
Naturalien entlohnt. In den Gemeinden wurden Elementarschulen
unterhalten. Höhere Schulen gab es hingegen in den Provinzhauptstädten.
Kaiser Joseph II., ein aktiver aufklärerischer Reformer, verfügte 1784,
dass Deutsch zur Amtssprache der habsburgischen Besitzungen werden
sollte, auch in Ungarn. Dies stärkte die Stellung der Kolonisten,
verhinderte aber gleichwohl nicht, dass sich gegen Ende des 18.
Jahrhunderts die Zweisprachigkeit immer mehr durchsetzte.
Handwerker pflegten in den Zünften eine Selbstverwaltung ihrer
beruflichen Angelegenheiten. Beamte wurden gewählt. Man bestimmte auch
eigene Repräsentanten für politische Gremien, etwa den Ungarischen
Landtag, in dem schon Ende des 18. Jahrhunderts ungarndeutsche Vertreter
saßen.
Sie galten dort als "freie und unmittelbare Untertanen" des Königs.
„Die Donau fließt“
Ein Gedicht über die Auswanderung nach Ungarn
„Die Donau fließt“
Ein Gedicht über die Auswanderung nach Ungarn
Die Donau fließt und wieder fließt
(Aus der Ansiedlungszeit)
Die Donau fließt und wieder fließt
wohl Tag und Nacht zum Meer.
Ein' Well die andere weiterzieht
und keine siehst du mehr
All' Frühjahr kehren d'Schwälblein zurück
der Storch kommt wieder her,
doch die gen Ungarn zogen sind,
die kommen nimmermehr.
Das Ungarland ist's reichste Land,
dort wächst viel Wein und Treid,
so hat's in Günzburg man verkünd't,
die Schiff stehn schon bereit,
dort geits viel Vieh und Fleisch und G'flüg,
und taglang ist die Weid,
wer jetzo zieht ins Ungarland,
dem blüht die goldne Zeit.
Mein Schätz hat auch sein Glück probiert,
doch nicht zum Zeitverteib,
und eh' der Holler's drittmal blüht
so hol ich dich als Weib,
und sieben, sieben lange Jahr,
die sind jetzt nun hinab,
ich wollt, ich wär bei meinem Schatz,
doch niemand weiß — sein Grab.
3 Halt! Stopp! Was sollen diese Geschichten sagen? Und was bedeuten sie im Hinblick auf die Russlanddeutschen?
Die sogenannte Alte Welt funktionierte an vielen Stellen anders als die im 19. Jahrhundert entstehende Welt der modernden Staaten und als einheitlich gedachten Nationen.
Erklärung
Wie funktionierte die Alte Welt? – Einige Merkmale
Erklärung
Wie funktionierte die Alte Welt? – Einige Merkmale
Staat und Bevölkerung in der Alten Welt
Bis zum Ende der Frühen Neuzeit um 1800 waren die europäischen Länder überwiegend Monarchien.
Der Herrscher bildete mit seiner Familie das Zentrum aller politischen
Macht. Er regierte das Land mit seinen Räten. Alle Menschen, die in
seinem Land lebten, waren seine Untertanen, auch die Adligen. Die Herrscher verteilten das Land (Lehen), die Rechte und Privilegien. Alle Untertanen leisteten den Eid auf den Herrscher.
Sie versprachen, sich nicht aufzulehnen, ihre Abgaben zu leisten und den
Kriegsdienst zu leisten. Wie sie sonst lebten, welche Lieder sie sangen
oder welche Sprache sie sprachen, interessierte am Hofe des Herrschers
meistens niemanden. Die einzige wirkliche Klammer des gesamten Staates
war die Monarchie.
Um ihre Macht zu vergrößern, versuchten viele
Herrscher, große Reiche zu bilden. Wenn sie Land eroberten, dann
beherrschten sie es ebenfalls mit den Mitteln der Eidesleistung und der
Verteilung von Ländereien und Privilegien. Ihnen kam es dabei nicht so
sehr auf die Abstammung der Untertanen oder ihre kulturellen Eigenarten an.
Daher
waren viele große Reiche früher Vielvölkerstaaten, so etwa das
Habsburgische Reich, das Zarenreich oder auch das Osmanische Reich.
Rassismus war meistens nicht bestimmend für die Politik.
Untergang der Alten Welt
Nach der Französischen Revolution setzte eine Veränderung ein. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich immer mehr die Idee, wonach einheitlich gedachte Ethnien (Völker) ihre eigenen Staaten und Regierungen haben sollten.
Staat und Bevölkerung nach dem Ende der Alten Welt
Vielvölkerstaaten wurden nun immer mehr abgelehnt. Ethnisch begründete Nationen
wurden entworfen, zu denen auch jeweils eigene Staaten gehören
sollten. Beispiel: Tschechen, Ungarn oder Kroatien betrachteten sich im
19. und frühen 20. Jahrhundert immer weniger als Teil des
Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn, sondern wollten in eigenen,
unabhängigen Staaten leben. Man nennt dieses Denken Volkssouveränität.
Damit
entstanden in Europa viele Spannungen: So gab es Konflikte, weil sich
Völker innerhalb der Staaten unterdrückt fühlten oder unterdrückt wurden
und ihre eigenen Staaten beanspruchten. Oder es gab Konflikte, weil
'Mehrheitsvölker' in einem Staat die Minderheiten unterdrückten oder sie
aus dem Land verjagen wollten. Nationalismus und Rassismus nahmen immer mehr zu. Daraus folgten nicht selten Gewalt und Aufstände.
Erklärung
Was hat der Nationalismus des 19. Jahrhunderts mit den Aus- und Eingewanderten zu tun?
Erklärung
Was hat der Nationalismus des 19. Jahrhunderts mit den Aus- und Eingewanderten zu tun?
Hugenotten, Russlanddeutsche, Donauschwaben – es ist immer der
gleiche Mechanismus: Menschen machen sich auf der Suche nach besseren
Lebensverhältnissen auf den Weg, weil sie gerufen werden. Herrscher
geben ihnen die Möglichkeiten, sich in ihren Territorien
niederzulassen. Dazu veröffentlichen sie meistens Einladungen,
sogenannte Peuplierungspatente und richten mitunter ganze Verwaltungen
ein, um die Niederlassung von Einwanderern zu unterstützen und zu
kontrollieren.
Sehr oft setzen solche Bemühungen der Herrscher nach
Eroberungen, Kriegen und Krankheitswellen ein. Eine Folge besteht sehr oft
darin, dass weite Teile eines Landes menschenleer sind. Dann
nennt man den Vorgang der Einwanderung und Neubesiedlung auch innere
Kolonisation.
Das Bild oben zeigt die Blumen am Solovetsky-Stein in Moskau am 28. August 2011. Der Stein ist zum Gedenken an die Opfer der Stalin-Diktatur in Russland 1990 eingeweiht worden. Zum 70. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen durch Stalins Befehl legten Menschen dort Blumen nieder.
4 Deutsche Siedler in Osteuropa und ihr Schicksal – Wofür stehen die Deutschen aus Russland?
Viele Menschen aus dem Raum des Heiligen Römischen Reichs deutscher
Nation gingen vor 1800 in andere Gegenden, die entweder zum Reich
gehörten oder von Herrschern regiert wurden, die mehr oder weniger mit
dem Reich verbunden waren. Sie taten genau das, was die Herrscher, die
sie riefen oder schickten, von ihnen erwarteten. Sie ließen sich nieder,
gründeten Siedlungen, stärkten die Wirtschaft, brachten neue Ideen und
Ansichten in ihre neue Heimat mit. Das passierte oft schon seit dem
Mittelalter.
Und so lebten in Gegenden, die heute beispielsweise zu Ungarn oder Rumänien, den Nachfolgestaaten der Sowjetunion oder des ehemaligen Jugoslawien gehören, viele deutsche Siedler. Sie gerieten in die Mühlen der nationalistisch und ideologisch begründeten Menschenverachtung des 20. Jahrhunderts. Viele verloren ihre Heimat, wurden vertrieben, ihres Besitzes beraubt, misshandelt, verschleppt oder umgebracht.
Zur Flucht der Donauschwaben am Ende des Zweiten Weltkriegs
Verlust – Angst – Gewalt – Unsicherheit
Zur Flucht der Donauschwaben am Ende des Zweiten Weltkriegs
Verlust – Angst – Gewalt – Unsicherheit
Zur Flucht der Donauschwaben am Ende des Zweiten Weltkriegs kann man auch im Internet viele Informationen finden, zum Beispiel hier. Viele Menschen aber konnten oder wollten sich nicht auf den Weg machen, der Roten Armee zu entkommen. Sie wurden vielfach gedemütigt oder umgebracht, zehntausendfach zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt und kamen später in die Bundesrepublik Deutschland.
Auch das Schicksal der Russlanddeutschen ist sehr tragisch, allein schon durch die Länge ihrer Leidenszeit. Sie wurden seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder und immer mehr unterdrückt. Sie mussten über Jahrzehnte Gewalt und Leid ertragen, wurden als ganze Volksgruppe deportiert und hatten viele Opfer zu beklagen. Zur kollektiven Erinnerung der Russlanddeutschen gehört die fast vollständige Erduldung der mehr als 70-jährigen kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion, die Bedrohung durch kommunistische und nationalsozialistische Gewalt während des Zweiten Weltkriegs und ein langes, fast aussichtsloses Hoffen auf die Verbesserung ihrer Lage. Und noch immer kehren Russlanddeutsche aus Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland zurück.
Um sie und ihr Schicksal soll es daher in den folgenden Kapiteln vor allem gehen.
Was die kollektive Erinnerung der Russlanddeutschen ausmacht
Die Russlanddeutschen vertrauten ebenfalls den Zusagen von
Herrschern, u. a. eben denen der Zarin Katharina II. Nach den Regeln der Alten Welt machten sie alles richtig. Sie nahmen die Einladung an, sahen
sich fortan als Untertanen der Zaren und bekamen die ihnen zusagten
Privilegien. Sie besiedelten die zugewiesenen Gebiete und brachten die
Wirtschaft zum Florieren.
Ihr Problem war, dass ihnen diese
Geschäftsgrundlage im Laufe der Entwicklungen des 19. und 20.
Jahrhunderts entzogen wurde. Immer mehr galten sie fortan als Fremde und
Bedrohung, als Menschen, die sich als etwas Besseres fühlten, weil sie
auf die Einhaltung der Privilegien hinwiesen. Diese Deutschen sprachen deutsch, waren keine orthodoxen Christen, kochten ihre eigenen Gerichte
und lebten nach ihren eigenen Werten. Das alles wurde von russischen
Nationalisten immer mehr als verdächtig betrachtet. Nach dem Ersten
Weltkrieg, in dem die russlanddeutschen Männer als Soldaten des Zaren
gekämpft hatten, erduldeten sie die Diktatur der Bolschewiki und später
das brutale Gewaltregime Stalins. Sie bewahrten ihre Kultur, wo es ging,
oft im Geheimen. Die Mehrheit kam nach dem Ende der Sowjetunion
hunderttausendfach nach Deutschland zurück und heute sind die Deutschen
aus Russland wieder ein wichtiger und aktiver Teil der deutschen
Gesellschaft, bei allen Herausforderungen, die das Leben in der
deutschen Gesellschaft der Gegenwart auch für sie bedeutet.
5 Zusammenfassung
Auf dieser Seite ging die es um die Frage, warum die Ansiedlung von größeren Kolonistengruppen ein so häufig auftauchendes Phänomen in der deutschen Geschichte ist.
Neuansiedlung war ein recht einfacher Prozess: In der Alten Welt (bis ca. Ende 18. Jh.) waren Untertanen ihrem Herrscher verpflichtet. Neue Untertanen mussten also einfach einen Treueeid ablegen, dann war ihre 'Integration' abgeschlossen. Sprache, Kultur, Herkunft spielten keine so wichtige Rolle wie heute.
Die 'Donauschwaben' sind dafür ein gutes Beispiel: Die Habsburger Herrscher brauchten Kolonisten im entvölkerten ungarischen Teil ihres Reichs. Die angeworbenen Deutschen wollten eine Aussicht auf Wohlstand. Niemand erwartete, dass die Siedler dafür zu Ungarn werden sollten.
Das änderte sich im 19. Jahrhundert. In der Vorstellung des Nationalismus leben in Ungarn Ungarn, in Russland Russen und in Deutschland Deutsche. Deutsche, die dauerhaft in Ungarn oder Russland leben wollten, mussten zu Ungarn oder Russen werden. Mit dem Aufkommen des Nationalismus begann der Druck auf nationale Minderheiten zu wachsen. Im 20. Jahrhundert mündete dieser Druck oft in Verfolgung und Vertreibung.