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Willst du die Kälte und den Hunger besiegen? Willst du gut essen und trinken? Dann werde ein braver Sowjetkommunist.
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Ich behaupte,
die Wolgadeutsche Republik, die die Russlanddeutschen nach der
Revolution tatsächlich erhielten, war mit das Wichtigste, was den
Russlanddeutschen in ihrer Geschichte passiert ist. Nicht, weil diese
Republik mächtig, politisch autonom, langlebig und stabil gewesen wäre –
das war sie alles nicht. Aber sie sollte in der Erinnerung der
Russlanddeutschen noch jahrzehntelang, vielleicht bis heute einen
wichtigen Platz einnehmen. Sie war der Ort, an dem man endlich das sein
konnte, was man war – Russe und Deutscher – und an dem
einem daraus kein Vorwurf gemacht wurde. Sie war Heimat, vielleicht die
letzte wirkliche Heimat, die die Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert
haben sollten. Aber Erinnerung kann auch trügerisch sein. Also wollen
wir uns in diesem Kapitel die 'Wolgadeutsche Republik' anschauen und
uns dabei fragen, was an ihr tatsächlich gut war und was vielleicht nur
aus der Erinnerung an sie gut aussah.
1 Dient der neuen Sowjetunion, dann kriegt ihr eure Selbstverwaltung
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Für die Russlanddeutschen war 1918 nach den Verletzungen der
Kriegsjahre klar, dass sie Schutzrechte und Selbstverwaltung brauchten,
um sich in diesem Land wieder sicher zu fühlen. Die in Moskau neu an die
Macht gekommenen kommunistischen Bolschewiki wollten ihre Herrschaft
stabilisieren und das Land nach ihren Vorstellungen umgestalten.
Natürlich hatten die Bolschewiki mehr Macht, aber ihre Lage war 1918
noch ziemlich unsicher – sie brauchten loyale und engagierte Bürger, um
die Sowjetunion aufbauen und gegen ihre zahlreichen Feinde vorgehen zu
können.
Die Russlanddeutschen bekamen also folgendes Angebot: Wenn sie,
angeführt von guten deutschen Kommunisten, an der Wolga ein
russlanddeutsch-sowjetisches Musterland aufbauen würden, bekämen sie
ihre gewünschten Rechte und eine selbstverwaltete sogenannte
'Arbeitskommune'. Die Sache hatte für die Russlanddeutschen mehrere
Haken: Erstens waren sie keineswegs überzeugte Kommunisten, sie waren
größtenteils landbesitzenden Bauern und Kleinunternehmer – also
Menschen, die von einer kommunistischen Verstaatlichungspolitik nichts
Gutes zu erwarten hatten. Zweitens sollten an der Spitze ihrer
Arbeitskommune von Moskau ernannte Kommissare stehen. War das dann
überhaupt noch eine Selbstverwaltung?
Eine Karte der wolgadeutschen Arbeitskommune von 1922
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Quelle
Telegramm Josef Stalins an die sozialistischen Vertreter der Wolgadeutschen über den Ausgang der Verhandlungen (25. April 1918)
An das Komitee deutscher Sozialisten des Saratover Gouvernements. […]
Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen bezüglich der Erklärung Ihrer
Delegation, vertreten durch die Genossen Klinger, Emrich und Köhler,
gegenüber dem Volkskommissariat für Nationalitätenangelegenheiten
mitzuteilen, dass die Regierung erfreut sein kann über das Erwachen der
deutschen werktätigen Massen, die sich endlich entschieden haben, den
Aufbau ihres Volksschulwesens und der gesamten Selbstverwaltung des
Volkes auf Grundlage der Rätebildung in die eigenen
Hände zu nehmen. Die Regierung vertraut darauf, dass die deutschen
Arbeiter und armen Bauern, zusammengeschlossen in Deputiertenräten,
die Macht in ihre Hände nehmen und Schulter an Schulter mit den
russischen Werktätigen zum Sozialismus voranschreiten werden. Wir
zweifeln nicht daran, dass Ihr Komitee alle Kräfte einsetzen wird, um
gemeinsam mit den zu Ihnen delegierten bewährten Genossen Reuter und
Petin in Ihrem Tätigkeitsbereich den endgültigen Triumph des Sozialismus
herbeizuführen. Der Volkskommissar für Nationaliätenangelegenheiten J. Stalin.
Telegramm: schnelle Übermittlung von Nachrichten durch ein Telegrafie-Gerät, das über leitende Kabel elektrische Signale sendet Rätebildung: Statt demokratisch gewählter Abgeordneter strebten die Kommunisten die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten an. Diese sollten die Entscheidungen der sozialistischen Partei durchsetzen und damit ihre Macht stärken. Deputiertenräte: Als Deputierte werden hier die Mitglieder eines Rates bezeichnet. Diese bilden den Rat.
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Darstellung
Warum förderte Stalin die Gründung der Arbeitskommune als 'autonomes' Gebiet der Wolgadeutschen?
Josef Stalin war kein ehrlicher Mensch, so viel ist sicher, und
selbstlos schon gar nicht. Einige seiner Autonomiemotive für das
Wolgagebiet wurden bald für jeden spürbar: Die Rote Armee brauchte im
Bürgerkrieg jeden Mann und jedes Getreidekorn, das sich irgendwie
auftreiben ließ. Mit der Autonomie und der direkten Einflussnahme auf
das Wolgagebiet erhielt er auf beides einen leichteren Zugang. So stand
der Wolgadeutsche bald wieder auf dem Kriegsacker, doch diesmal im Kampf
Russe gegen Russe, Rote Armee gegen Weiße Armee. Wieder waren die
Deutschen zwischen die Fronten geraten, wieder litt die Landbevölkerung
unter den übermäßigen und rücksichtslosen Lebensmittellieferungen. Hinzu
kam die unsägliche Willkür des Kriegskommunismus, der für die Deutschen
ein besonders hartes Brot sein sollte.
Natürlich hatte Stalin noch weitere Motive in der Hinterhand. So
sollten andere Minderheiten mit dem wolgadeutschen Vorzeigeprojekt zum
freiwilligen Verbleib im neuen Russland gebracht werden. Die
Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen war praktisch eine
Werbeaktion für einen angeblichen kommunistischen Föderalismus.
Ebenso schwang bei Stalin die Hoffnung mit, dass endlich der
„Flüchtlingsstrom" ins Deutsche Reich aufhören möge, der mit dem Frieden
von Brest-Litowsk eingesetzt hatte. Lieber sollten die
Russlanddeutschen zur Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht gebracht
werden.
Doch das stärkste Motiv war die Angst davor, dass das deutsche
Kaiserreich mit seiner Werbung bei den Wolgadeutschen den Nerv treffen
könnte. Das Deutsche Reich versuchte nämlich, die Wolgadeutschen an
seine Politik zu binden. Um dies zu verhindern, ließ Stalin die deutsche
Sprache und Kultur zu. Er erhoffte sich dadurch eine Erhöhung der
Wirkung seiner eigenen Propaganda bei den deutschsprachigen Einwohnern
in Sowjetrussland.
2 Erst kommt der Kommunismus, dann der Bürgerkrieg
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Moskau schickte den Wolgadeutschen zwei 'ihrer eigenen Leute', den deutschen Sozialisten Ernst Reuter und den Österreicher Karl Petin.
Beide waren ehemalige russische Kriegsgefangene. Die Rolle dieser
beiden 'Kommissare' war zwiespältig. Sie waren an der Wolga, um Moskaus
Vorstellungen von kommunistischen Reformen umzusetzen. Sie waren aber
auch die Vertreter der wolgadeutschen Bevölkerung und ihrer Interessen
gegenüber Moskau. Sie organisierten Schulen, in denen die
Wolgadeutschen endlich wieder deutschen Unterricht geben konnten, aber
diesen Unterricht eben auch nach den marxistischen Vorgaben der
Regierung ausrichten mussten. Sie organisierten die landwirtschaftliche Produktion und bestellten Geräte und Maschinen für die wolgadeutschen
Bauern, aber eben auch mit dem Ziel, möglichst viel Getreide nach Moskau
liefern zu können. Denn die Bolschewiki in Moskau brauchten dringend
Vorräte und Versorgung. Nach ihrer Revolution war das halbe Land in
Aufruhr, ganze Provinzen versagten der Sowjetunion die Gefolgschaft,
Teile der Armee kämpften weiter für das untergegangene Zarenreich und
gegen die Bolschewiki – das Land steckte mitten in einem blutigen
Bürgerkrieg.
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Quelle
Allgemeines Statut des Kommissariats für wolgadeutsche Angelegenheiten (1918)
Das Kommissariat ist der geistige Mittelpunkt der sozialistischen Arbeit unter der deutschen arbeitenden Bevölkerung.
Das Kommissariat überwacht die Durchführung der Dekrete und Verfügungen der Sowjetregierung.
Das
Kommissariat hilft der Vereinigung der arbeitenden Massen der deutschen
Kolonien in Bezirksräten, mit Rücksicht auf die besonderen Bedingungen
ihrer Sprache, Sitte und Gebräuche. Die Vereinigung wird durchgeführt im
Einvernehmen mit den örtlichen Gouvernementsräten, wenn die deutschen
Räte einen diesbezüglichen Wunsch äußern.
Beschlüsse der
Bezirks- und Gouvernementsräte, die die Interessen der arbeitenden
Bevölkerung der deutschen Kolonien berühren, werden nur mit Wissen und
Einverständnis des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im
Wolgagebiet durchgeführt.
Hinweis: Wenn du dir das Statut im Original
ansehen möchtest, kannst du das hier tun. Unter diesem Link findest du
auch noch andere interessante Quellendokumente aus der ersten Zeit der Wolgadeutschen Republik.
Deutsche Flüchtlinge unter dem Schutz des Roten Kreuzes kommen aus Russland per Schiff in Deutschland an (1929).
Winter 1921. Der Bürgerkrieg war zu Ende, die Bolschewiki hatten
gewonnen. Aber der Krieg hatte alle Vorräte und Nahrungsreserven im Land
verschlungen. Der folgende Sommer brachte wegen einer Dürre kaum
Ertrag. Im Gebiet der Wolgadeutschen litten die Menschen unter einer
schrecklichen Hungersnot, doch nicht nur dort.
Die Gedanken der Menschen drehten sich überall nur ums Essen. Die
Nahrungsbeschaffung wurde zu einem Überlebenskampf. Insgesamt
verhungerten bis 1923 in Russland etwa fünf Millionen Menschen, davon
waren 47.777 Wolgadeutsche. Ohne internationale Hilfsorganisationen
wären noch viel mehr Menschen gestorben. Sie versorgten täglich
Millionen, bewahrten ganze Dörfer vor dem Aussterben. Menschen, die eine
Möglichkeit sahen, das Land zu verlassen, flohen aus dem Elend. So
verlor das Siedlungsgebiet der Deutschen an der Wolga weitere 74.000
Einwohner. Sie gingen innerhalb Sowjetrusslands in Gegenden, in denen
die Not nicht so groß war oder verließen das Land in Richtung
Deutschland.
Russische Bauersfrauen danken einem Mitarbeiter der US-Hilfsorganisation „American Relief Administration". Diese Organisation war bei der russischen Hungersnot von 1921 vor Ort tätig.
Auf dem Bild siehst du zwei vom Hunger gezeichnete Jungen. Darunter steht: „Der Hunger in Russland. III. Das zweite Stadium des Hungers: ausgemergelte Gliedmaßen, aufgeblasene Bäuche (vom Verzehr von Grass, Stroh, Baumrinden, Würmern und Erde). Diese Kinder konnten schon nicht mehr gerettet werden. Sie hätten genährt werden müssen, bevor sie diesen Zustand der Erschöpfung einmal erreicht hatten."
Auf dieser Karte siehst du in der Mitte das Gebiet der Hungersnot in Russland in den Jahren 1921/22 (senkrecht schraffiert). Die Stadt Saratoff (Saratow) ist auf der Karte zu sehen, sie liegt im Zentrum des wolgadeutschen Siedlungsgebiets.
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Darstellung
Ursachen und Folgen der Hungerkatastrophe
Ursachen:
'Kriegskommunismus':
Bevorzugung der Roten Armee und der kommunistischen Verwaltungen bei der Versorgung
Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele durch die Kommunisten
Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Landbesitz, Industrieanlagen, Banken usw.)
Bürgerkrieg:
Plünderungen durch die Kriegsparteien, Verwüstungen durch Banden
Beschaffungskommandos
beschlagnahmten rücksichtslos alle Lebensmittelreserven, oftmals auch
das Saatgut für den Kampf der Roten Armee gegen die Weiße Armee der
Anhänger des Zarenreichs.
Den Bauern wurden trotz der Missernte
unerfüllbar hohe Abgabenlasten auferlegt. Wer wenig lieferte, musste mit
Bedrohung oder grausamer Bestrafung rechnen (Verhaftungen, Geiselhaft
der Familienmitglieder, Scheinerschießungen, Schläge).
Die
russlanddeutschen Bauern am Schwarzen Meer und an der Wolga litten
besonders, da sie im Vergleich zu anderen Minderheiten doppelt so viele
Abgaben zu erbringen hatten.
Dürre in weiten Teilen Russlands vom Winter 1920 bis zum Sommer 1921: In
den Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen an der Wolga und der
Ukraine verdorrte das Getreide. Es folgte eine katastrophale Missernte.
Kommunistische Enteignungspolitik: Das
'Dekret über den Grund und Boden' führte zu einer starken Beschneidung
des privaten Ackerbesitzes. Für die landwirtschaftliche Bestellung stand
nun plötzlich viel weniger Anbaufläche zur Verfügung, weil die
kollektiv organisierte Landwirtschaft nicht in Gang kam. Das führte zu
einer Ertragskrise der russischen Landwirtschaft.
Folge: Im Winter 1921/22 setzte eine große
Hungersnot ein. Schätzungsweise 25 Millionen Menschen mussten in
Russland hungern. Im Gouvernement von Saratow war die Katastrophe am
schlimmsten. Hier wohnten 2,9 Millionen Menschen. Zum Jahreswechsel
1921/22 litten von diesen etwa 2,1 Million Menschen an Unterernährung.
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Quelle
Aus einem Brief von Wolgadeutschen an den deutschen Gesandten in Moskau über eine kommende Hungersnot (1918)
Die Lage der deutschen Kolonien an beiden Ufern der mittleren Wolga
[...] wird von Tag zu Tag schlimmer. Die terroristischen Überfälle von
Seiten der bolschewistischen Roten Gardisten, die seit Dezember 1917
stattfinden, nehmen Dimensionen an, die zur Annahme nötigen, als sei es
auf die Vernichtung der Kolonien abgesehen. Unter dem Vorwande der
Requisition wird den Leuten das letzte Mehl und Korn, Pferde und Kühe
weggeführt, Schafe und Rinder abgeschlachtet. Viele Bauern sind dadurch
der Möglichkeit, ihre Felder zu bestellen und die Frühjahrsaussaat zu
besorgen, beraubt. Wer sein Gut zu verteidigen sucht, wird hingemordet. Beispiele:
In einem Dorfe, namens Schaffhausen, sind über hundert Männer, Frauen
und Kinder hingemordet und ist fast alle Habe der Leute weggeführt und
zerstört worden. Ein ähnliches Schicksal erreichte die Kolonien Basel,
Zärig, Bettinger (russisch = Baratajewka), Glarus und andere. Den
einzelnen Kolonien werden „Kontributionen" von vielen Millionen auferlegt, die besten Männer als Geiseln ins Gefängnis geworfen. [...] Da die deutsche Regierung die deutschen Kolonisten, die zurückwandern wollen in die alte Heimat und deren Vermögen laut dem Brester Friedensvertrag
[...], geschützt wissen will, können die so schwer Heimgesuchten nur
von Deutschland Schutz und Hilfe erwarten. Diese Hilfe, um die die
bedrängten Kolonisten dringend bitten, muss bald geschehen, wenn nicht
ihr ganzes von hunderten von Millionen zählendes Vermögen und viele
kostbare Menschenleben zugrunde gerichtet werden sollen.
Kontributionen: Geldzahlungen oder andere
Abgaben, die von der Bevölkerung eines Landes in Kriegszeiten zur
Unterhaltung einer Armee (sehr oft einer gegnerischen Besatzungsarmee)
geleistet werden sollen. Diese Zahlungen werden in vielen Fällen mit
Gewalt erzwungen. Brester Friedensvertrag: Friedensvertrag
von Brest-Litowsk zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland vom
3. März 1918. In einem Zusatzvertrag zu diesem Friedensvertrag wurde
denjenigen Russlanddeutschen, die nach Deutschland auswandern wollten,
Schutz versprochen.
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Quelle
Das Grauen an der Wolga: Auszug aus dem Bericht einer staatlichen Kommission über die Folgen des Hungers
Augenblicklich ernährt sich die Bevölkerung mit verschiedenen
Gräsern, Kräutern, Zwiebeln, Knoblauch, Hunden, Katzen, Ratten,
Fröschen, Zieselmäusen, Igeln und an der Wolga gesammelten toten Fische.
Ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung verzehrt noch die letzten Reste
seines Milch- und Arbeitsviehes. Die Kommission hat einzelne Fälle
festgestellt, wo ganze Familien hilflos, nicht mehr imstande sich zu
bewegen, in den Häusern umherlagen, wo und wie es der Zufall wollte,
ohne jegliche Aufsicht und Pflege, ihre eigenen Exkremente unter
sich hervorholten und mit den Händen in den Mund schleppten. […] In
einem anderen Hause wurden Kinder von 7-17 Jahren beim Benagen der
Knochen eines geschlachteten Hundes angetroffen. Der Zustand der
genannten Kinder, vier an der Zahl, war traurig, alle waren
angeschwollen, abgemagert, und entkräftet, unfähig eine selbstständige
Bewegung zu machen.
Im Herbst 1923 ging es dann endlich wieder aufwärts für die
Arbeitskommune an der Wolga. Die schreckliche Hungersnot schien mit der
guten Ernte von 1923 überwunden zu sein und auch politisch tat sich
etwas für die Wolgadeutschen. Die Regierung in Moskau war endlich
bereit, ihnen ihre eigene Republik zu geben.
Am 6. Januar 1924 riefen die Bolschewiki die Autonome Sozialistische
Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdW) aus. Das Siedlungsgebiet
der Wolgadeutschen war somit von einer 'Arbeitskommune' zu einem formal
eigenständigen Staat aufgestiegen – einer Sowjetrepublik im Verbund der
Sowjetunion. Aber was bedeutete das für die Russlanddeutschen an der
Wolga?
Diese evangelisch-lutherische Kirche wurde 1851 erbaut. Sie steht in einer Stadt, die ebenfalls mehrfach den Namen wechselte: Gegründet wurde sie als Balzer, heute heißt sie Krasnoarmeisk.
Deutsche Siedler gründeten 1766 die Stadt Pfannenstiel, die später Mariental hieß. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Kolonie, es gab Windmühlen, ein Krankenhaus und eine Schule. Diese Stadtansicht mit der Pfarrkirche im Hintergrund stammt aus dem Jahr 1900.
Mariental heißt heute Sowetskoje und ist die zweitgrößte Stadt der Region. Die 1842 erbaute Pfarrkirche steht zwar noch, das Gebäude ist jedoch in schlechtem Zustand.
16
Quelle
Der Zeitzeuge Edgar Groß über die Bedeutung der Wolgadeutschen Republik
Das Interesse an der Wolgarepublik als einem autonomen Staatsgebilde
wächst im Westen, und von den Werktätigen selbst, so wie von ihren
Leitern hängt es ab, die Republik zu einer wirklichen Bauernrepublik zu
machen, in der die aus dem Westen kommenden Bauerndelegationen auf jeden
Schritt den Beweis der Überlegenheit und der Vorteile des Sowjetsystems
auch für das kultivierte westliche Bauerntum finden.
Hinweis: Edgar Groß war Vertreter der ASSRdW, also der Republik der Wolgadeutschen beim Moskauer Zentralexekutivkomitee. Sein Bericht stammt aus dem Jahr 1926.
Zentralexekutivkomitee: Es handelt sich um das
oberste, die politischen Entscheidungen ausführende Organ. Es wurde
gebildet aus der Versammlung aller Abgeordneten der Arbeiter- und
Bauernräte (Sowjet = dt. Rat).
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Erkundung: Das Wappen der Wolgadeutschen Republik
18
Darstellung
Wissenswertes über die Verfassung der Wolgadeutschen Republik aus dem Jahr 1926
Staatsverfassungen ansehen? Vielen Menschen erscheint das zunächst
langweilig. Und doch bekommt man bei Lesen von Verfassungen immer einen
guten Eindruck davon, wie ein Staat so „tickt“, was er über sich und seine
Werte zu sagen hat. Das ist auch bei der Verfassung der ASSRdW der Fall. Die Wolgarepublik hatte ab dem 1. Januar 1926 endlich eine Verfassung.
Der Text zeigt deutlich, dass auch die Republik wie die
Arbeitskommune keine wirkliche Autonomie besaß: Die Republik wurde nicht
als Staat bezeichnet. Sie hatte auch kein Gesetzgebungsrecht.
Die
Wolgadeutschen durften lediglich um eine Abänderung oder Aufhebung der
Dekrete der Zentralregierung in Moskau bitten. Forderungen durften die
Wolgadeutschen praktisch jedoch nicht stellen. Die Regelung zur
Aufhebung oder Abänderung von Dekreten sollte daher nur den Anschein
erwecken, die Wolgadeutschen könnten ihr Leben mitgestalten.
Für
die Verwaltung der Finanz- und Wirtschaftsaufgaben waren sogenannte
vereinigte Volkskommissare für Finanzen und Arbeit, die Arbeiter- und
Bauerninspektion und der Volkswirtschaftsrat zuständig. Diese waren den
jeweils gleichnamigen Behörden in Moskau unterstellt.
Die
Volkskommissare für Innere Angelegenheiten, Justiz, 'Volksaufklärung',
Gesundheit, Landwirtschaft, Sozialversicherung waren ebenso zentralen
sowjetischen Instanzen gegenüber rechenschaftspflichtig.
19
Darstellung
Gebiet und politischer Charakter der Wolgadeutschen Republik
Die Gesamtfläche der Republik betrug bei der Gründung 25.447 km².
Hier lebten insgesamt 454.358 Deutsche, was einem Bevölkerungsanteil von
67,9 Prozent entsprach. Traditionell war das Gebiet der Republik
landwirtschaftlich geprägt. In der Republik gab es nicht weniger als
91.000 Bauernwirtschaften.
Vertreten wurden die Menschen der Republik vom wolgadeutschen
Rätekongress, zu dem 300 Deputierte aus den örtlichen Dorfsowjets
berufen wurden. Aus ihnen rekrutierte sich alljährlich das 65 Mitglieder
umfassende Zentralvollzugskomitee.
20
Quelle
Liste deutschsprachiger Orte der Wolgadeutschen Republik
Hier kannst
du dich genauer über das Gebiet der wolgadeutschen Republik und die
deutschsprachigen Orte auf dem Gebiet der Republik informieren.
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5 Zusammenfassung
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Auf dieser Seite ging es um die Fragen, was die Wolgadeutsche Republik eigentlich war und wie sie entstand.
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Arbeitskommune
Bürgerkrieg und Hunger
Die Republik
§
1918 entstand die wolgadeutsche Arbeitskommune. Durch sie erhielten die Wolgadeutschen ein gewisses Maß an kultureller Eigenständigkeit (z. B. deutschsprachiger Unterricht) und Interessenvertretung (eigene Kommissare). Der Preis dafür war, dass die Kommune kommunistisch organisiert wurde und die Parteiführung in Moskau direkten Zugriff auf die Produktion der Kommune hatte.
Der russische Bürgerkrieg zwischen Bolschewiki und Zarentreuen und die mit ihm einhergehende Hungersnot traf auch die Arbeitskommune an der Wolga schwer. Sie verlor bis 1923 über 100.000 Einwohner durch Hungertod und Abwanderung.
1924 wurde die Arbeitskommune offiziell zur Wolgadeutschen Republik. Damit war sie ein eigener Staat mit eigener kommunistischer Räteregierung. ABER: Solche Staaten gab es in der Sowjetunion viele, keiner von ihnen konnte effektiv gegen den Willen der Moskauer Parteiführung Politik machen und viele der ihnen zugesicherten Rechte existierten nur auf dem Papier.
Arbeitskommune
Bürgerkrieg und Hunger
Die Republik