Eben habe ich meinen Kollegen, der im Büro neben mir sitzt, gefragt, ob er sich als Deutscher fühlt. Er sagte: "Ja. Schon irgendwie." Ich fragte nach: "Also, wenn dich jemand fragt, ob du dich als Deutscher fühlst, bejahst du das?" Er: "Na ja, zuerst bin ich Bayer. Und wichtig ist mir, dass hier Brot und Bier als Grundnahrungsmittel angesehen werden." Nach längerem Nachdenken wurde mir klar, dass es mir auch so geht: Zuerst denke ich an meine regionalen Bindungen, meine kulturelle Zugehörigkeit und dann erst an das ganze Land.
Loyalitäten auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene – vielleicht ist es das, was mich und mein Deutschsein am besten beschreibt.
1 Zwischen Russland und Deutschland
„Russlanddeutsche“ – das ist ein Sammelbegriff und er ist manchmal missverständlich. Denn oftmals bezeichnet man mit diesem Begriff auch die Deutschen in allen anderen Regionen und Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Ganz viele Deutsche gab oder gibt es aber auch in Mittelasien, also zum Beispiel in Kasachstan.
Zunächst: Wo man lebt oder lange gelebt hat, da hat man Bindungen aufgebaut: zu den Menschen und ihrer Kultur, zur Landschaft, zur Sprache, zu den Städten und ihrer Architektur. In vielen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion lebten und leben viele Ethnien, in Kasachstan mehr als 50: neben Kasachen auch Usbeken, Tataren, Kirgisen und eben auch Deutsche.
Die russischen oder kasachischen Prägungen nahmen Russlanddeutsche natürlich mit, als sie mit dem Ende der Sowjetunion 1990 nach Deutschland kamen. Und daher schlugen und schlagen oft zwei Herzen in der Brust jener Deutschen, die aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen und begannen, sich hier ein neues Leben aufzubauen.
Ob das ein Problem ist? Ein politisches oder gesellschaftliches Problem ist es sicher nicht. Es kann ein persönliches Problem sein. Heimweh und Orientierungslosigkeit können das Leben von Menschen belasten. Wer seine Prägungen jedoch als Bereicherungen verstehen kann, wer erkennt, dass Identität kein eindimensionales und kollektivistisches Gefühl, sondern ein Bekenntnis ist, das sich aus unterschiedlichen Einflüssen ergibt, der kann auch ein selbstbewusstes Leben führen, in dem er seine russischen, kasachischen oder usbekischen ‚Seiten‘ nicht verstecken kann und will.
Galerie: Kasachische Landschaften
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Zwischen zwei Welten?
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Zwischen zwei Welten?
Willst du dich in das Thema vertiefen? Lies mal das Buch „Mein Herz blieb in Russland“. Es enthält 33 Erinnerungen von Zeitzeugen, die über ihr Leben in der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten berichten. Darin findet sich auch die Geschichte von Oleg Klatt:
„Wer sich Kasachstan als eine endlose Steppe vorstellt, täuscht sich gründlich. Meine Frau Irina und ich erinnern uns gern an die Landschaft unserer Kindheit: viele Seen, Kiefern- und Birkenwälder und sanft gewellte Berge, meist nur 350 bis 400 Meter hoch. Meine Kindheit verbrachte ich in Stepnogorsk, später zog ich in meine Geburtsstadt Schtschutschinsk zurück, wo ich Irina kennenlernte. Beide Städte liegen im nördlichen Kasachstan, in der Nähe von Kokschetau, nicht weit von Sibirien. Diese Gegend ist so reizend und für Kasachstan so ungewöhnlich, dass die Bewohner sogar eine Legende darüber dichteten:
Als Allah die Welt schuf, schenkte er dem einen Volk viel Land mit mächtigen Flüssen, dem anderen majestätische Berge, dem dritten fruchtbare Felder und dichte Wälder. Den Kasachen aber gab er nur Steppen. So sehr sie den Allmächtigen auch baten – er rückte nichts aus seinem Sack. Da entschloss sich der pfiffige Aldar-Kose, seinen Landsleuten zu helfen, und schlug Allah vor, mit ihm Verstecken zu spielen. Er bat Allah, einen kleinen Hügel in der Steppe aufzuschütten, damit man sich verstecken konnte. Allah willigte ein und ging an die Arbeit. Bei diesem Ablenkungsmanöver gelang es Aldar-Kose, ein kleines Loch in seinen Sack zu stechen. Als sie zu spielen begannen, hob Allah den Sack hoch, und in die Steppe fielen malerische Berge, bizarre Felsen, smaragdgrüne Wiesen, sprudelnde Bäche und azurblaue Seen. Dichte grüne Wälder bedeckten die Berghänge. Die Wälder füllten sich mit Tieren und Vögeln, die Seen mit Fischen und die Wiesen mit Schmetterlingen, die es sonst in der Steppe nicht gab. So entstand – der Legende nach – die Gegend Kokschetau, das »Land der blauen Berge«."
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Die russlanddeutsche Schriftstellerin Melitta L. Roth über Integration in einer Erzählung (2020)
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Die russlanddeutsche Schriftstellerin Melitta L. Roth über Integration in einer Erzählung (2020)
Wir kamen hierher, als ich zwölf war. Drüben, da war ich lammfromm, der Liebling aller Lehrer und Erzieher, hab immer brav meine Hausaufgaben gemacht und fleißig Gitarre geübt. Meine Lieblingsbeschäftigung mit neun war Origami falten, im Ernst, das darf ich heute niemandem erzählen. Ich habe sogar Omas über die Straße geholfen.
Aber das war früher. Jetzt bin ich so, wie ihr mich haben wollt. Ungeduldig, rüpelhaft, rabiat, und brutal. Ein echter Iwan vom Lande. Ich habe mir sogar angewöhnt, seitlich aus dem Mundwinkel auf die Straße zu spucken. Ein Hooligan wie er im Bilderbuch steht. Ich frage mich nur, welche Eltern ihren Kindern solche Bilderbücher vorlesen. Aber egal.
Ihr wollt uns nicht verträumt. Ihr wollt uns nicht irgendwie gebildet und höflich. Dann eben nicht. Ich nehme meine Integration ernst und spiele nach euren Regeln. Als dahergekommener Russe weiß ich mich eben nicht richtig zu benehmen.
Ich werde euch nie verraten, dass ich mit meinem Onkel jede Woche angeln gehe, Lachs oder Forelle. Es gibt da diese quadratischen Teiche, die extra für Angler angelegt sind. Mit Tannen drum herum und einem Lokal mit Holzbänken davor. Obwohl Angeln und Jagen ja auch irgendwie männlich sind und zumindest mit Waffen zu tun haben. Nun ja, eine Angel ist nicht unbedingt eine Waffe, aber wir haben Fischmesser zum Ausnehmen dabei. Mein Onkel hat 'nen Angelschein und nimmt mich morgens um fünf immer mit, meistens an den Samstagen. Das ist nicht leicht, weil ich freitags meine obligatorische Sauftour mit den Jungs hab, aber ich habe mich dran gewöhnt. Oma macht mit den Fischen zu Mittag immer tolle Sachen, und ich helfe ihr dabei. Schnippeln und so. Danach kommt die ganze Familie zusammen und nach dem Essen spiele ich ein bisschen Gitarre und wir singen irgendwelche Balladen. Oft Sachen von Viktor Zoi2 oder nach den Texten von Okudschawa. Aber was ich indoor anstelle, hat die Mehrheitsgesellschaft ja nicht zu interessieren. Hauptsache, ich markiere draußen den starken Kerl. Manchmal ermüdet mich dieses Männlichkeitsgehabe, aber es kann auch lustig sein. Den Part im Fitnessstudio hasse ich. Übe lieber zuhause mit meinem Hanteln und am Reck, das mein Vater in die Wohnungszimmertür gehängt hat. Auch er weiß, was er diesem Land schuldig ist. Die ersten fünf Jahre arbeitslos, quasi. Er hat schon immer nachts und am Wochenende schwarz geschuftet. Naja, als Theaterintendant zu arbeiten, wie drüben in Russland, ist wohl nicht drin, verstehe ich auch. Theater in Deutschland, das ist nicht sowas Internationales, nicht wie am Broadway oder im Sidney Opera House, nein, hier ist es im besten Falle regional, wie das Gemüse. Er hat sich in unserem städtischen Gemüsetheater beworben, mit Diplom und einer Liste von allen Stücken, die er inszeniert hat, aber sie wollten lieber einheimische Rüben und Kohlköpfe engagieren, vom eigenen Acker. So fährt er eben Taxi und schuftet am Wochenende schwarz auf dem Bau. So wie es sein muss, wenn du aus dem Osten kommst und fremd hier bist.
Sobald irgendwer von der Polizei oder sogar der Postbote an der Tür klingelt, zieh ich mein Hemd aus, das mit dem gebügelten Kragen und kurzen Ärmeln und öffne im Unterhemd. Ich setze meine finsterste Miene auf. Für solche Fälle haben wir auf dem Telefontischchen neben der Haustür immer eine Bierflasche und eine angekaute Zigarettenkippe liegen, die klemme ich mir in den Mundwinkel, Flasche in der Hand und fertig. Es ist so einfach! Manchmal wundere ich mich, dass ihr darauf reinfallt, aber so sind die Regeln.
2 Zu Hause und doch fremd? Oder doch nicht?
Kennst du das? Da warst lange nicht in einer Gegend oder Stadt, in die du vor längerer Zeit mal mit deinen Eltern oder Freunden gefahren bist. Vielleicht war das in den Ferien oder auf Besuch. Irgendwann kommst du dann mal wieder in diese Gegend oder Stadt und stellst fest, dass sich Vieles verändert hat: neue Straßen, andere Gebäude und Geschäfte. Viele andere Menschen wohnen jetzt in der Stadt. Menschen, die du früher dort kanntest, sind weggezogen oder verstorben. Und vielleicht sagst du dann: "Hier hat sich aber viel verändert. Es ist ja alle ganz anders geworden!"
Frankfurt heute ist nicht dieselbe Stadt wie Frankfurt 1943
Ungefähr diese Erfahrung machen im Grunde auch die Deutschen aus Russland, wenn sie aus Russland, Kasachstan oder anderen Ländern, die früher zur Sowjetunion gehörten, nach Deutschland zurückkommen.
Nach Russland nahmen die Einwanderer ihre deutsche Kultur mit, in der Form, wie sie sie zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung kannten. In Russland und später in der Sowjetunion bewahrten und pflegten die dorthin eingewanderten Deutschen ihre mitgebrachte Kultur. Es war für sie schwer oder sogar unmöglich, von den Veränderungen in der deutschen Gesellschaft und Kultur, die in Deutschland passierten, zu erfahren. Aktuelle Bücher, deutsche Radio- und Fernsehmedien, aktuelle Veränderungen in der Lebensweise und politischen Einstellungen in Deutschland (später den beiden deutschen Staaten) zu bekommen, war sehr schwer.
Die Abkapselung wurde noch dadurch verstärkt, dass viele Deutsche in Russland lange Zeit kein Russisch sprachen und von der umgebenden russischen Bevölkerung mitunter abgelehnt oder misstrauisch betrachtet wurden. In der Stalinzeit wurden sie endgültig zu inneren Feinden erklärt.
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Mit einer solchen Erfahrung sind die Deutschen aus Russland nicht allein. In der Vergangenheit und Gegenwart gibt es immer wieder Gruppen von Menschen, die inmitten einer anderen Gesellschaft und Kultur leben. Man nennt diese Situation eine Diaspora-Situation.
Filmtipp
„Poka heißt Tschüss auf Russisch“
Filmtipp
„Poka heißt Tschüss auf Russisch“
Der Film zeigt die Erlebnisse zweier junger Leute, die aus Kasachstan nach Deutschland kommen und mit den völlig ungewohnten Umständen umgehen müssen. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung findest du mehr Informationen über den Film und seine Hintergründe: https://www.bpb.de/shop/multim...
3 Was bedeutet Diaspora?
Der Begriff Diaspora kommt aus dem Griechischen und bedeutet Zerstreuung. Damit ist gemeint, dass es Gruppen gibt, die eine bestimmte Religion, Kultur oder Volkszugehörigkeit haben, aber in der Fremde leben. Die also entfernt von dem Ort leben, wo die Mehrheit ihres Volkes oder die Menschen mit der gleichen Kultur und Religion sind. In einer Diaspora zu leben hat auf die Menschen häufig zwei unterschiedliche Wirkungen:
- Es stärkt den Zusammenhalt in der Gruppe. Gemeinsamkeiten, geteilte Erinnerungen, Rituale und Bräuche werden betont. Man versichert sich gegenseitig der eigenen Wertigkeit und Bedeutung als Angehörige der Diaspora-Gemeinschaft.
- Die Betonung der Eigenarten führt oft zu Fremdheitsgefühlen und einer Abgrenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Diaspora-Gruppen sehen es beispielsweise oft als problematisch an, wenn ihre Mitglieder in die Mehrheitsgesellschaft ‚einheiraten‘ weil diese Mitglieder und ihre Kinder so der Gruppe ‚verloren gehen‘.
Diaspora – Beispiele
4 Sichtweisen auf Geschichte und historische Erfahrungen
Geschichte bildet einen großen Teil des Bewusstseins. Wie die eigene Lebenszeit und die darin gemachten Erfahrungen im Lauf der Zeiten verankert werden, welche besonderen Ereignisse man erlebt hat, welche Geschichten darüber erzählt werden und welche Geschehnisse eventuell eine ganze Generation geprägt haben. Das bestimmt darüber, wer man ist und zu welchen Gruppen man gehört. Eine Nation – das ist auch ganz wesentlich eine historische Erlebensgemeinschaft.
Zur Geschichte Deutschlands und zur Geschichte der Deutschen in Russland kann man sich an vielen Stellen informieren. Im Netz sind wichtige Informationen zur Geschichte der Russlanddeutschen zu finden, beispielsweise im Internet an folgenden Orten:
- In der Wanderausstellung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. zur Geschichte der Deutschen aus Russland.
- Oder kurz zusammengefasst in der Darstellung „‚Russlanddeutsche‘ und Katharina die Große“ der Deutschen Welle.
- Oder ein wenig wissenschaftlicher im Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa.
- Oder in der Darstellung „Wer sind die Russlanddeutschen?“ der Bundeszentrale für politische Bildung.
- Oder auch im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. (Das Museum kann man übrigens auch besuchen und sich viele spannende Ausstellungsstücke aus dem Leben der Russlanddeutschen ansehen.)
- Informationen zur Geschichte Deutschlands sind etwa im Lebendigen Museum Online (LEMO) zu finden, das vom Deutschen Historischen Museums, dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und dem Bundesarchiv unterhalten wird.
- Und wer sich sehr fundiert mit der europäischen Geschichte beschäftigen will, kann das mit der Plattform Europäische Geschichte Online tun.
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Über Kollektividentität Russlanddeutscher
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Über Kollektividentität Russlanddeutscher
Hinsichtlich der Frage nach einer Kollektividentität der Russlanddeutschen spielt die Selbstbestimmung als nationale bzw. ethnische Minderheit eine entscheidende Rolle. Die Gruppe der Russlanddeutschen konstituiert sich im gesellschaftspolitischen Diskurs auch heute noch maßgeblich über die gewaltbesetzte Vergangenheitserfahrung der Deportationen, Enteignungen und Diskriminierungen, denen sie als Volksgruppe in der Sowjetunion ausgesetzt war. In diesem Sinne ist die Thematisierung und Aufarbeitung der über Jahrzehnte in der Sowjetunion verschwiegenen Erfahrungen ein zentraler Bestandteil der kollektiven Identitätszuschreibung.
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Sich mit Verbrechen der Vergangenheit befassen? Кто старое вспомянет ... Hinsehen oder Wegsehen?
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Sich mit Verbrechen der Vergangenheit befassen? Кто старое вспомянет ... Hinsehen oder Wegsehen?
Кто старое вспомянет, тому глаз вон – Diesen russischen Spruch habe ich mit folgender Übersetzung gefunden: Wer Vergangenes aufrührt, dem sollte ein Auge ausgeschlagen werden.
Soviel zur Erinnerungskultur. Aber es gibt noch einen zweiten Teil dieser Pogoworka, dieses Sprichwortes und der lautet:
Кто старое помянет, тому глаз вон, а кто забудет тому оба.
Ich übersetze das lieber etwas ergebnisoffener mit:
Wer das Alte erinnert, dem das Auge futsch, und wer vergisst, dem beide!
5 Zusammenfassung
Auf dieser Seite ging es um die Frage, was das Besondere an russlanddeutscher Identität ist bzw. sein könnte.
Heimat ist für viele ein wichtiger Teil ihrer Identität. Für Russlanddeutsche ist dieser Teil ihrer Identität oft schwer zu benennen, weil sie mehreren Orten gegenüber heimatliche Gefühle hegen. Dieser Umstand kann aber, wenn er selbstbewusst angenommen wird, vielmehr Stärke sein als Defizit.
Das Verhältnis Russlanddeutscher zu Deutschland ist bisweilen geprägt von alten, in Russland konservierten Vorstellungen von Deutschland. Russlanddeutsche (und ihre Vorfahren) waren nicht vor Ort, um mitzuerleben, wie sich Deutschland zu dem Land entwickelte, das es heute ist. Insofern haben Russlanddeutsche manchmal eine anders geprägte Sicht auf das Deutschland im 21. Jahrhundert.
Russlanddeutsche bringen ihre eigenen Geschichten in die Geschichten der deutschen Gesellschaft mit ein. Diese Geschichten sind für andere Deutsche oft neu und passen manchmal nicht zu den Großerzählungen, auf die sich die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geeinigt hat. Letztlich fügen die Russlanddeutschen der deutschen Geschichte damit aber nur einen notwendigen und relevanten Aspekt hinzu.