Stell dir vor, die Türkei würde Deutschland den Krieg erklären. In Deutschland leben 2020 ca. 3 Millionen Menschen, deren Vorfahren aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind. Diese Menschen wird schon jetzt häufig die schwer zu beantwortende Frage gestellt, ob sie sich eigentlich eher als Deutsche oder Türken ansehen würden. Im Kriegsfall würde diese Frage aber plötzlich viel wichtiger. „Bist du jetzt Türke/Türkin und gehörst damit zum Feind oder bist du Deutsche/Deutscher und kämpfst mit uns zusammen gegen den türkischen Feind?" Man kann sich leicht vorstellen, wie schwierig diese Lage für Menschen mit vielfältiger nationaler Identität ist.
Die Russlanddeutschen kamen 1914 in genau diese Lage: Das Deutsche Reich – ihre 'alte Heimat' – erklärte dem Russischen Reich – ihrer aktuellen Heimat – den Krieg. Was taten sie, für wen entschieden sie sich? Wie änderte sich dadurch ihre Identität als Russlanddeutsche? Und wie veränderte sich ihr Verhältnis zu ihren russischen Nachbarn?
1 Der Krieg bricht aus – Sag mir, wo du stehst!
Video: Wie kam es eigentlich zum Krieg zwischen Deutschland und Russland?
Die Wolgadeutschen bereiteten gerade die Feierlichkeiten zum 150-jährigen Jubiläum der ersten deutschen Siedlung in Russland vor, als das Deutsche Kaiserreich Russland im Jahr 1914 den Krieg erklärte. Der Erste Weltkrieg begann.
In Russland gab es wie überall eine öffentliche Kriegsbegeisterung. Der Zar und die eigenen Truppen wurden bejubelt, die Kriegsgegner Deutschland und Österreich-Ungarn dämonisiert. Und viele Russen stellten sich die Frage, auf welche Seite sich ihre deutschen Mitbürger wohl stellen würden. Diese erwiesen sich aber als mustergültige russische Untertanen. Sie hielten Russland und dem Zaren die Treue. An vielen Orten gab es patriotische Bekundungen der Russlanddeutschen für Russland. Und danach zogen etwa 300.000 Deutsche als Soldaten der Zarenarmee an die Frontlinie, um gegen die Truppen der Mittelmächte zu kämpfen.
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Die Deutschen in Russland sind kein Vorposten des Deutschen Kaiserreichs (1914)
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Die Deutschen in Russland sind kein Vorposten des Deutschen Kaiserreichs (1914)
Hinweis: Bei dieser Quelle handelt es sich um
einen Zeitungsbericht über eine Aussage des russlanddeutschen
Parlamentsabgeordneten Ludwig Lutz. Die Zeitung gibt seine Aussagen
wieder, daher die Formulierungen wie „habe man" oder „sei eingetreten".
In Deutschland habe man augenscheinlich beim 'Drang nach Osten' die deutschen Untertanten Russlands als Vorposten betrachtet. Die Stunde sei eingetreten, wo die deutschen treuen Untertanen [...] die Würde und Ehre des großen Vaterlandes verteidigen und die Beleidigung tilgen werden, die ihnen schon durch die Annahme allein hätte zugefügt werden können, dass die deutschen Untertanen Russlands ihr Vaterland verraten würden.
Vorposten: Beim Militär sind Vorposten
vorgeschobene Einheiten, die Informationen über den Gegner verschaffen
sollen oder die weiter zurück aufgestellten Truppen bewachen und sichern
sollen.
tilgen: beseitigen, aus der Welt schaffen
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Der russlanddeutsche Gelehrte Karl Lindemann über die Deutschen im Zarenheer
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Der russlanddeutsche Gelehrte Karl Lindemann über die Deutschen im Zarenheer
Es wird vielleicht mancher dabei sagen: „Sie wurden dazu gezwungen und eilten nicht freiwillig zur Erfüllung ihrer patriotischen Pflichten." – Ja, natürlich wurden sie dazu „gezwungen", ganz ebenso wie die echten Russen, die damals mobilisiert wurden. […] Alle Nationalitäten des Reiches gingen damals nur gezwungen in diesen Krieg. Aber die deutschen Kolonisten gingen ins Heer, nicht nur weil sie mussten, sondern weil sie es für ihre höchste Pflicht hielten, ihrem Staate, ihrem Vaterlande in der Stunde der Gefahr hilfreich beizustehen und selbst ihr Leben für das Wohl und Bestehen des Vaterlandes zum Opfer zu bringen.
Hinweis: Wenn du mehr über den Wissenschaftler und Kämpfer für die Interessen der Russlanddeutschen Karl Lindemann (1847–1928) erfahren willst, dann kannst du dich hier informieren.
2 Der Krieg läuft schlecht – Wer ist schuld?
Der Krieg lief für Russland nicht gut. In den ersten Kriegsjahren erlitt die russische Armee an der Westfront mehrere schreckliche Niederlagen. Diese hatten viele Gründe, zum Beispiel mangelnde Kriegsvorbereitung und strategische Fehler der Generäle. Über diese Ursachen wollten Offiziere und Politiker in Russland nicht gern sprechen. Sie suchten stattdessen nach Sündenböcken. Die Deutschen im Heer wurden beschuldigt, Verräter und Spione zu sein. Ihnen wurde unterstellt, aus Vaterlandsliebe zum Deutschen Kaiserreich die Niederlagen herbeigeführt zu haben.
Mit jedem weiteren Vorrücken des Feindes im Westen und mit der schnell zunehmenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Russland steigerte sich die feindliche Haltung gegenüber den Russlanddeutschen. In der Presse und in zahlreichen Hetzschriften wurde der Hass auf die Deutschstämmigen im Land geschürt. Er griff auf weite Kreise der russischen Gesellschaft über.
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Plakate in Moskau warnten vor den Deutschen in Russland (1915)
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Plakate in Moskau warnten vor den Deutschen in Russland (1915)
Hinweis: Die russische Militärverwaltung ließ im Sommer 1915 an vielbesuchten Orten eine Warnung für die Russen aufhängen:
Die Deutschen in Russland treiben Spionage im Interesse des deutschen Heeres und stehen mit diesem und mit der deutschen Regierung in regem Verkehr. Darum wird das Publikum aufgefordert, die in Moskau wohnenden Deutschen scharf zu überwachen, deren verräterische Tätigkeit zu beobachten und falls ein verdächtiges Benehmen der Deutschen bemerkt werden sollte, sofort darüber zu berichten.
Spionage: Ausspähen geheimer Informationen für einen politischen oder militärischen Gegner
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'Die Wahrheit über die Deutschen' – Eine Broschüre des russischen Kriegsministeriums
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'Die Wahrheit über die Deutschen' – Eine Broschüre des russischen Kriegsministeriums
Hinweis: Nach den Niederlagen der russischen
Armee im ersten Kriegsjahr wurde eine Broschüre unter den Frontsoldaten
verteilt, in der eine große Abneigung gegen Russlanddeutsche zum
Ausdruck kam und harte Maßnahmen gegen sie verlangt wurden.
Nicht nur alle Reichsdeutschen, sondern auch alle russländischen Deutschen, deren Vorfahren aus Deutschland eingewandert sind, müssen sofort, ohne Zeitverlust und Schwanken, aus Russland ausgesiedelt, d.h. vertrieben werden. Es wird das vom Standpunkt der Staatserhaltung verlangt und muss geschehen im Interesse unseres Vaterlandes und unserer heroischen Krieger, welche furchtlos ihr Leben opfern für Glauben, Kaiser und Vaterland. [...] Das große russische Volk versteht diese Schätze zu beschützen; es braucht keine deutschen Meister und Vormünder. Diese müssen alle vertrieben werden, ohne jede Rücksicht auf Alter, Geschlecht, eingebildete Nützlichkeit oder langjähriges Leben in Russland.
Vormünder: Personen, die sich um die
Angelegenheiten anderer Menschen kümmern, weil diese dazu nicht in der
Lage sind. Das kann zum Beispiel nötig sein, weil diese Menschen noch
Kinder sind oder eine geistige Krankheit haben.
Die Bezeichnung Vormund stammt aus dem Rechtswesen. Sie wird hier auf den Umgang der Deutschen mit den Russen übertragen.
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Polizeibericht aus Atkarsk über das Verhalten der Russlanddeutschen gegenüber Russen (1916)
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Polizeibericht aus Atkarsk über das Verhalten der Russlanddeutschen gegenüber Russen (1916)
Hinweis: Der Bericht wurde durch den Polizeichef
des Kreises Atkarsk verfasst. Er stammt vom 15. September 1916. Atkarsk
liegt etwa 90 km von Saratow entfernt. Die Karte zeigt rot eingefärbt
das Gebiet, in dem die Stadt liegt.
Die Kolonisten zeigen der russischen Bevölkerung gegenüber keinerlei offene Feindseligkeit. Gegenüber Regierungsbehörden, Funktionsträgern und Beamten sind die Kolonisten bestrebt, ihre völlige Loyalität und Dienstbeflissenheit zu unterstreichen.
Kolonisten: gemeint sind die russlanddeutschen Siedler
Loyalität: gesetzestreues Verhalten
Deutsche Herkunft wird zum Problem – Zwei prominente Fälle
Darstellung
Fall 1: Paul von Rennenkampff
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Fall 1: Paul von Rennenkampff
Paul von Rennenkampff (1854–1918) war ein in Kondorf (estnisch: Konuvere) geborener Deutschbalte, der Karriere im russischen Militär machte. Aufgrund seiner Verdienste hatte er als russischer Patriot und Vorbild im Volk ein hohes Ansehen. Nach eigener Aussage fühlte er sich deutsch, war aber zum orthodoxen Glauben konvertiert. Im Ersten Weltkrieg war er Oberbefehlshaber der 1. Russischen Armee an der nord-westlichen Front.
An der Schlacht vom Tannenberg nahm er zusammen mit der 2. Russischen Armee unter General Alexander Wassiljewitsch Samsonow teil.
Als die 2. Armee von deutschen Truppen eingekesselt wurde, kam er ihr nicht zu Hilfe. Warum er nicht half, lässt sich bis heute nicht vollständig erklären. Er schätzte die Lage taktisch offenbar falsch ein. Hinzu kam, dass sich beide Generäle überhaupt nicht mochten und nur mangelhaft Absprachen trafen. Die Russen erlitten gegen die Deutschen im Herbst 1914 eine herbe Niederlage. Die 2. russische Armee wurde völlig aufgerieben. In einer weiteren Schlacht ließ von Rennenkampff eingekesselte deutsche Verbände entweichen.
Nun unterstellte man ihm Verrat. Er verließ die Armee. In einer Untersuchung konnte der Vorwurf des Vaterlandsverrats nicht bestätigt werden. Trotzdem erschien General von Rennenkampff in der russischen Gesellschaft wie ein Verräter. Deutschfeindliche Russen sahen in seinem Fall einen Beleg dafür, dass alle Deutschen in Russland mit dem Feind kollaborierten.
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Fall 2: Alexandra Fjodorowna
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Fall 2: Alexandra Fjodorowna
1872 wurde sie als Alix von Hessen-Darmstadt geboren, 1894 heiratete sie Zar Nikolai II. und wurde so zu Alexandra Fjodorowna – Kaiserin von Russland. Alexandra war keine Russlanddeutsche, sondern eine deutsche Adelige, die einen russischen Kaiser geheiratet hatte. Solche internationalen Adelsehen waren damals in ganz Europa üblich, aber mit Kriegsausbruch wurden auch sie zu einem Problem. Alexandra war schon vorher aufgrund ihrer Schüchternheit und schlechter Sprachkenntnisse in Französisch und Russisch am Hof eher unbeliebt gewesen. Mit dem schlechten Kriegsverlauf wurden aber überall im Reich Gerüchte laut, die Zarin sei eine deutsche Agentin, die im Geheimen am Sieg des Deutschen Reichs über Russland arbeite.
Alexandra war indessen eine glühende Unterstützerin ihres Mannes und dessen eher glückloser Politik. Auch verteidigte sie seinen absolutistischen Herrschaftsanspruch über das Reich, der schon länger von verschiedenen Reformströmungen und Forderungen nach demokratischer Volksvertretung angegriffen wurde.
3 Die 'Liquidationsgesetze': Die Deutschen weg von der Front!
Nach den Niederlagen der russischen Armee rückten die Truppen der Mittelmächte immer weiter nach Osten vor. Auch ein Vorstoß bis in deutsche Siedlungsgebiete war im Jahr 1915 nicht mehr ausgeschlossen.
Für die russische Regierung war das eine unerträgliche Vorstellung. Daher beschloss sie Maßnahmen, um ein solches Zusammentreffen zu verhindern. Alle deutschen, ungarischen und österreichischen Siedler innerhalb eines bis zu 150 km breiten Grenzstreifens sollten ihr Land verlieren und ins Hinterland gehen. Dabei wurde nicht nach Schuldigen gefragt: Die zwangsweise Umsiedlung betraf etwa 200.000 Menschen aus Wolhynien, die in Richtung Ural, Kasachstan oder Sibirien gebracht wurden. Ihre Häuser und ihr Land wurden besitzlosen russischen Bauern und Frontsoldaten zugesprochen.
In den Jahren 1916 und 1917 wurden diese Maßnahmen gegen die Deutschen in Russland noch verschärft. Nun sollten alle Deutschen aus dem europäischen Teil Russlands verbannt werden.
Zusammenfassung
Maßnahmen und Aktionen gegen Russlanddeutsche
Zusammenfassung
Maßnahmen und Aktionen gegen Russlanddeutsche
- antideutsche Aktionen nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches, u. a. Umbenennung deutscher Dörfer, Botschaftserstürmung, Versammlungsverbot
- 'Liquidationsgesetze', um Russlanddeutschen ihren Besitz zu nehmen und sie zu vertreiben
- Gründung des 'Komitees zur Bekämpfung der deutschen Übermacht': Planung antideutscher Maßnahmen
- Pogrom vom 27. Mai 1915 in Moskau gegen Deutsche: Zerstörung von 759 deutschen Geschäften, 40 Verletzte, 3 Tote
- Abkommandierung der Russlanddeutschen von der Westfront
- Oktober 1915: Verbot des Unterrichts in deutscher Sprache und aller deutschen Medien (Zeitungen usw.)
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Bekanntmachung der Deportation im Kreise Nowograd-Wolynsk (Juni 1915)
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Bekanntmachung der Deportation im Kreise Nowograd-Wolynsk (Juni 1915)
Alle Deutschen, Kolonisten, Nichtorthodoxen des Kreises Nowograd-Wolynsk, die nicht in geschlossenen Ortschaften leben, unterliegen der Aussiedlung. Sie haben bis zum 10. Juli des Jahres Zeit, ihren Landbesitz aufzulösen. An ihren Wohnorten können verbleiben: Frauen der Kolonisten, die sich in unserem aktiven Heer befinden, ihre Kinder, Mütter und Familienoberhäupter. Auszusiedelnde dürfen ihre Besitztümer mit sich nehmen. In den deutschen Siedlungen werden vorübergehend Flüchtlinge aus Galizien einquartiert, denen entsprechende Gebäude zur Verfügung gestellt werden. Sie werden auch mit der Einbringung der Ernte sowie der Aufsicht über den Besitz der Auszusiedelnden beauftragt, der aus irgendwelchen Gründen am Orte zurückgelassen werden muß. Für Gewaltakte, die die Kolonisten an den Flüchtlingen verüben, wird der Schuldige dem Kriegsgericht überstellt. [...] Die gesamte Bevölkerung des Kreises wird gewarnt, daß diejenigen, die sich durch eine ungesetzliche Benutzung eines von den auszusiedelnden Kolonisten vorübergehend zurückgelassenen Gegenstandes schuldig machen, in Übereinstimmung mit den Kriegsgesetzen den strengsten Strafen unterzogen werden.
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Folgen der Maßnahmen gegen die Russlanddeutschen (1917)
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Folgen der Maßnahmen gegen die Russlanddeutschen (1917)
Erklärung von Abgeordneten der Staatsduma über die 'Liquidation' des wolgadeutschen Besitzes:
Die
unter uns lebenden deutschen Kolonisten sind ebensolche russischen
Bürger wie wir alle. In unserer Region sind die Kolonisten unersetzliche
Landwirte [...].
Aussage eines russischen Politikers über die Folgen der Liquidation in den von Russlanddeutschen besiedelten Wolga-Gebieten:
Wir diskutieren über Rückstände bei der Aussaat. Und was hat diese verrückte Macht gemacht? Sie hat in den Gouvernements von
Saratow und Samara das Gesetz über die Liquidation des deutschen
Landbesitzes umgesetzt. Dies hat zur Folge, dass auf 600.000 Desjatinen Land nicht ausgesät werden wird.
verrückte Macht: Regierung des Zaren
Gouvernements: Verwaltungsgebiet
Desjatinen: altes russisches Flächenmaß; 1,1 Hektar (10.000 Quadratmeter)
Zusammengefasst: Die Probleme der Russlanddeutschen
4 Von der Revolution gerettet?
Die bürgerliche Revolution im Februar 1917 setzte der Zarenherrschaft ein Ende. Die Erleichterung unter den Russlanddeutschen war groß. Die neue provisorische Regierung hob auch tatsächlich die Liquidationsgesetze auf. Die Vertriebenen kehrten in ihre Heimat zurück.
Wenige Tage später wurde das Gesetz zur 'Gleichheit aller Nationen und Konfessionen' verkündet. Es erlaubte auch die Verbands- und Versammlungsfreiheit. Die nationalen Minderheiten nutzten die neue Freiheit zu verschiedensten politischen Aktivitäten. So gründete sich an der Wolga im April 1917 das 'Zentralkomitee der Wolgadeutschen' und im September die 'Republikanische Kolonistenpartei'. Im Gebiet Odessa wurde der 'Allrussische Bund russischer Deutscher' gegründet. Er erhob die Forderung nach einer demokratischen Republik.
Das große Ziel der russlanddeutschen Interessenvertretungen war die Autonomie der von Deutschstämmigen besiedelten Regionen. Sie hatten bitter erfahren, dass sie sich selbst politisch organisieren mussten, um geschützt zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Russlanddeutschen sich vollständig vom russischen Staat lossagen wollten. Die Wolgadeutschen strebten vielmehr nach einer Selbständigkeit innerhalb des russischen Vielvölkerstaates. Die Trennung von Russland stand für sie nicht zur Debatte.
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Hoffnung auf ein freies und sicheres Leben in Russland
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Hoffnung auf ein freies und sicheres Leben in Russland
Hinweis: Vom 25. bis 27. April 1917 fand in
Saratow eine Versammlung von 385 Kreisbevollmächtigten der deutschen
Wolga-Kolonien statt. Dabei sprach auch der russlanddeutsche
Rechtsanwalt Karl Justus zu den Anwesenden.
Die Herrschaft der Willkür und der Gewalttätigkeit [...] ist nun bei uns gebrochen. Auf den Ruinen der alten ist eine neue Regierung erstanden, ein neues Leben bricht sich Bahn. Wir wollen hoffen, dass diese neue Regierung auch der deutschen Bevölkerung des Reiches wird Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wir wollen hoffen, dass die Seiten der Geschichte des neuen Russlands nicht mehr beschmutzt sein werden durch Verfolgung und Vertreibung der im Reiche lebenden einzelnen Völkerschaften. (Beifall). Wir wollen hoffen, ja ich möchte mehr sagen, wir sind gewiss, dass man unsere Rechte, als die der freien Bürger des Landes, nicht mehr antasten wird. (Beifall)
5 Die Oktoberrevolution der Bolschewiki und ihre Folgen für nationale Minderheiten
Schon im Herbst 1917 folgte in Russland die nächste Revolution. Die kommunistischen Bolschewiki griffen am 25. Oktober 1917 nach der Macht im Land und verdrängten gewaltsam die bürgerliche Regierung.
Die ersten Gesetze der neuen Regierung lösten unterschiedliche Reaktionen bei den Russlanddeutschen aus. Das 'Dekret über den Frieden' versprach endlich den ersehnten Friedensschluss. Ohne Krieg mit Deutschland wären die Russlanddeutschen endlich nicht mehr 'innere Feinde' gewesen. Das 'Dekret über den Boden' aber sorgte für neue Ängste, weil es die Enteignung von staatlichem, kirchlichem und privatem Grundbesitz verkündete. Den vielen armen und verarmten Russen sollte damit Land und Arbeit gegeben werden. Bei den Russlanddeutschen aber löste es die Befürchtung aus, (erneut) den eigenen Besitz zu verlieren.
Das dritte Gesetz war das 'Dekret über die Völker Russlands'. Es erklärte die Rechtsgleichheit und die Souveränität aller Völker Russlands. Vor allem aber gewährten die Bolschewiki damit allen Minderheiten die Möglichkeit, einen eigenen Staat zu gründen. Die Führer der kommunistischen Revolution erhofften sich von diesem Dekret eine Unterstützung durch die Minderheiten und damit die Festigung ihrer Macht. Die Autonomie schien für die Deutschen greifbar nahe.
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Dekret über die Rechte der Völker Russlands (Auszug)
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Dekret über die Rechte der Völker Russlands (Auszug)
- Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands.
- Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbstständigen Staates.
- Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen.
- Freie Entfaltung nationaler Minderheiten [...], die das Gebiet Russlands bewohnen.
Quelle
Lenins Verständnis des Selbstbestimmungsrechts der Völker
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Lenins Verständnis des Selbstbestimmungsrechts der Völker
Wir sind für die Autonomie für alle Teile, wir sind für das Recht auf Lostrennung (nicht aber die Lostrennung aller!). Die Autonomie ist unser Plan für den Aufbau eines demokratischen Staats. Die Lostrennung ist keineswegs unser Plan. Die Lostrennung wird keineswegs von uns propagiert. Im Allgemeinen sind wir gegen die Lostrennung. […] Das Recht auf Selbstbestimmung ist eine Ausnahme von unserer allgemeinen Prämisse des Zentralismus.
Autonomie: Selbstbestimmung. Hier ist die Selbstbestimmung der im Russischen Reich lebenden Völker und nationalen Minderheiten gemeint.
Prämisse: Annahme
6 Zusammenfassung
Auf dieser Seite ging es um die Frage, wie sich die Situation der Russlanddeutschen durch den Ersten Weltkrieg veränderte.
Mit Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Russland kamen sofort Zweifel an der Loyalität der Russlanddeutschen für Russland auf. Diese meldeten sich aber in großer Zahl freiwillig und waren gewillt, ihre russische Heimat gegen Deutschland zu verteidigen.
Dass der Krieg für Russland schlecht lief, wurde auch den Russlanddeutschen zugeschrieben. Waren sie vielleicht Spione und Verräter, die insgeheim für den Feind arbeiteten? Die russische Regierung erließ daraufhin 'Liquidationsgesetze', um den Deutschen ihr Land wegzunehmen und sie in die östlichen Landesteile zu verschicken.
1917 brach die Zarenregierung zusammen und wurde erst von einer bürgerlichen Regierung abgelöst, dann kamen die revolutionären Bolschewiki. Die alten deutschenfeindlichen Gesetze wurden zurückgenommen und den Russlanddeutschen Gleichbehandlung und vielleicht sogar ein eigener Staat in Aussicht gestellt.