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8.6 Heimat: Hier und heute selbst erleben und gestalten

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https://unsplash.com/photos/p6rNTdAPbuk

PD

Lebt die Heimat in unseren Geschichten?

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Heimat wird nicht nur durch Vergangenes geprägt. Wir schaffen uns Heimat auch dadurch, wie wir uns das Leben in unserer Gegenwart und in der Zukunft gestalten. Heimat kann erarbeitet, eingefordert, erkämpft, ja 'erlebt' werden. Dafür muss man offen sein und offen bleiben, man muss die eigenen Gefühle – Sehnsucht, Verwirrung, Trauer, Enttäuschung, Wut – zulassen und einen Ausdruck für sie finden. Viele Russlanddeutsche haben sich auf künstlerische Weise ausgedrückt und ihren Kampf mit ihrer und um ihre Heimat Deutschland beschrieben. Beispiele hierfür findest du in diesem Kapitel.

1 Heimat – Was ist das? Und warum haben wir Heimatgefühle?

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Heimat in groĂźen roten Buchstaben in einem Neubaugebiet
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Urheber: Kreuzschnabel

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Heimat-Wetzgau.jpg

Cc3BYSA

Heimat in 2 Meter groĂźen Buchstaben am Rande eines erschlossenen Neubaugebiets

Heimat meint immer eine bestimmte Beziehung zwischen Mensch und Raum, also den Orten, die ein Mensch kennt, wo er sich ständig aufhält oder immer wieder einmal hinkommt. Dabei prägen sich Menschen das Aussehen von Landschaften, Orten oder Gebäuden zu einer bestimmten Zeit ein. Sie vergleichen spätere Eindrücke mit den älteren Eindrücken. Dabei bemerken sie Veränderungen und stellen fest, was gleich geblieben ist. So entsteht eine Mischung aus dem Bekannten und dem Neuen. Man kann sich also erinnern, fühlt sich sicher und geborgen und verbindet Erlebnisse mit den Orten, die man wiedererkennt. Neues wird nach und nach in das Alte eingebaut und damit als das Eigene akzeptiert. Menschen speichern auf diese Weise sehr viele Eindrücke im Gehirn. Man kann diese Eindrücke auch Bilder nennen. Diese Bilder verknüpfen wir mit positiven Gefühlen. Und wir empfinden sie umso stärker, je öfter wir sie wiederholen.

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Herta MĂĽller beim Kongress
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https://www.youtube.com/watch?v=ytT3lz1qWrc

Die deutsche Schriftstellerin Herta Müller zum Thema "Sprache ist Heimat" während eines Kongresses [08.07.2021]
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Darstellung

Auseinandersetzung russlanddeutscher Autoren mit ihrer Vorstellung von Heimat

In einigen Texten russlanddeutscher Autorinnen und Autoren ist das Konzept Heimat eng mit dem geographischen Raum der Wolgaregion und dem politischen Gebiet der ehemaligen Wolgarepublik verbunden. Die Wolga erscheint darin als zentrale Metapher fĂĽr Heimat und damit den Ursprung der eigenen Lebensgeschichte. Gesellschaftspolitisch referiert die Wolga-Metapher auf einen vergangenen Zustand und den Wunsch nach autonomer Selbstbestimmung.

Das in russlanddeutscher Literatur veranschaulichte Heimatkonzept verweist vielfältig auf das Bedürfnis nach eindeutiger Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Kollektiv. [...] Das hier artikulierte Bedürfnis nach Zugehörigkeit beschreibt u.a. die Motivation der Russlanddeutschen, in die Bundesrepublik zurückzukehren, und sich in der historischen Heimat anzusiedeln. Die damit einhergehende Erfahrung einer doppelten Fremdheit, d. h. sich weder in die russische noch in die deutsche Gesellschaft integriert zu fühlen, wird in der russlanddeutschen Literatur immer wieder thematisiert.

Vorstellungen von Heimat – offizielle und wissenschaftliche Definitionen

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Heimat 19. Jahrhundert Heimat 1920er Jahre Heimat 1980er Jahre Heimat in den 2020er Jahren

„Heimat, das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat [...] Selbst das elterliche Haus und Besitztum heißt so, in Bayern.“

Grimms Wörterbuch, heimat bis heimatlich, Bd. 10, Sp. 864 bis 866, in: http://woerterbuchnetz.de/cgi-... [eingesehen: 29.11.2020], vereinfacht: Marcus Ventzke.

„Geburtsort einer Person; Gemeinde, Land und Staat, dem jemand angehört.“

Meyers Lexikon, Band 5, S. 1307.

„Heimat als Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist, als Rahmen, in dem [...] abschätzbares Handeln möglich ist.“

Hermann Bausinger und Konrad Köstlin [Hg.], Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur, Neumünster 1980, S. 20.

„Heimat ist der Ort, an dem nichts hinterfragt wird.“

Juliane Tomann, Kulturwissenschaftlerin

Heimat 19. Jahrhundert Heimat 1920er Jahre Heimat 1980er Jahre Heimat in den 2020er Jahren
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Gedicht

Rosa Pflug: "Die Seele weint“

Die Seele weint

Ein Bär muss in der Höhle wohnen,
ein alter Mensch in seiner Heimat.
Nie wird er Seelenruhe finden
in dem Land,

das er zur neuen Heimat wählte.
Denn zersplittert ist sein Herz
und die Seele weint,
wenngleich er bitterlich darĂĽber schweigt.

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Buchauszug

Heimat? Das kann etwas sehr Verworrenes sein. Der aus Jugoswlawien stammende, deutschsprachige Schriftseller Saša Stanišić über Heimat

Hinweis: Saša Stanišić wurde 1978 im früheren Jugoslawien geboren. Er flüchtete während des Bosnienkriegs im Jahr 1992 mit seinen Eltern aus Višegrad nach Heidelberg. Sein Vater war ethnischer Serbe und seine Mutter Bosniakin.

In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer sich geographische Wünsche erfüllt. [...] Heidelberg begann für mich als eine zufällige Stadt. Ich war vierzehn und hatte von ihr nie gehört, geschweige denn geahnt, wie gut sich am Neckar später mit einer Studentin der Philosophie spazieren lassen würde. [...] Heidelberg ist ein Junge aus Bosnien, der sich in den Weinbergen am Emmertsgrund von einem Mädchen Deutsch beibringen lässt. Der sich erst viel später des Zufalls bewusst werden wird, ausgerechnet ein Heidelberger Junge geworden zu sein. Der diesen Zufall Glück nennt und diese Stadt: mein Heidelberg.

Saša Stanišić, Herkunft, München 2020, S. 123–131.

2 Von der russlanddeutschen Liebe zu Deutschland, deutscher Kultur, Kultur ĂĽberhaupt

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Wer Russlanddeutsche kennt, der weiß, dass viele von ihnen schon seit frühester Kindheit ihre Talente suchen, finden und entwickeln. Es gibt unter ihnen viele begabte Maler, Musiker, Dichter oder Tänzer. Und es geht auch keineswegs immer um 'klassische' Kulturgenres. Es gibt auch Rap und abstrakte Malerei, Fusion-Küche und internationales Theater.

Musik

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Das Musikleben der Russlanddeutschen ist sehr reichhaltig. Dabei gibt es aber nicht nur Klassisches, sondern auch Modernes: Musik für junge Leute mit kritischen Texten. 

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Modern Traditionell
Meijin & SK Karol -
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https://www.youtube.com/watch?v=LVD4E1SNy2Y

ME!j!N & SK Karol – "GEKOMMEN UM ZU BLEIBEN" Russlanddeutsche Aussiedler (prod. by Division Beatz) [08.07.2021]
Chor Gloria - Hochzeitsbrauch-Lied
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https://www.youtube.com/watch?v=zsQKlkV3J5o

Chor Gloria: Hochzeitsbrauch-Lied "Schön ist die Jugend", Chorleiter: Alexander Neb [08.07.2021]
Modern Traditionell

Malerei

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Russlanddeutsche Maler haben die Kunst ganz wesentlich mitbestimmt und tun es bis heute. Das Staatliche Kastejew-Museum der Künste in der kasachischen Stadt Almaty hat ihnen 2019 eine Ausstellung gewidmet. 

Einer der ausgestellten Künstler war Wladimir Eifert. Er wurde 1894 in Saratow geboren und studierte Kunst in Astrachan. Er war in den 1930er Jahren Direktor des Puschkin-Museums in Moskau, wurde als Russlanddeutscher aber 1941 nach Kasachstan deportiert. Dort litt er anfangs sehr darunter, dass er nicht mehr als Künstler tätig sein konnte. In Karaganda eröffnete er 1947 eine Kunstschule und bildete viele Maler aus, so beispielsweise Nikolai Schyrnow, Alexej Zoi oder Boris Tschetkow. Er starb im Jahr 1960.

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Interesse an Bildern?

Malerei von Russlanddeutschen

Über diesen Link findet man die Internetplattform Art-Torn, Künstlervereinigung der Russlanddeutschen. Dort kann man in die Werke russlanddeutscher Künstler eintauchen: bunt, vielfältig, plastisch – das volle Leben

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Kurzinterview mit Viktor Hurr, Haus der Deutschen aus Russland, Stuttgart, Oktober 2012
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https://vimeo.com/52707165

Der russlanddeutsche Maler Viktor Hurr malt sehr oft Szenen aus der Geschichte der Deutschen in Russland/der Sowjetunion [08.07.2021]

Literatur

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Die russlanddeutsche Literatur ist sehr reichhaltig. Daher ist es fast unmöglich, bestimmte Schwerpunkte oder Themen hervorzuheben. Regelmäßig gibt es auch Preisverleihungen, etwa den aller zwei Jahre vergebenen Hessischen Preis „Flucht, Vertreibung, Eingliederung“. Im Jahr 2013 hat den Preis übrigens auch
Wendelin Mangold bekommen. Er wurde 1940 auf einem russlanddeutschen Bauernhof geboren. Seine Familie gelangte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs über Rumänien, Ungarn und Polen nach Deutschland, wurde aber nach 1945 wieder in die Sowjetunion gebracht.

Mangold konnte nach Ende der Kommandantur eine Abendschule besuchen, studieren und den Doktorgrad erlangen. Er unterrichtete auch in Kasachstan das Fach Deutsch. 1992 kam er nach Deutschland und arbeitet bis 2007 auch als Sozialarbeiter in der katholischen Seelsorge der Russlanddeutschen. Mangold schreibt schon seit den 1970er Jahren. 2015 veröffentlichte er zum Beispiel einen Gedichtband mit dem Namen „Zu sich wandern. Gedichte eines Russlanddeutschen“.
Weitere bekannte russlanddeutsche Autorinnen sind u. a. Eleonora Hummel und Katharina Martin-Virolainen. Beide sind jünger, haben aber ebenso spannende Biografien und sind auch als Bloggerinnen aktiv. In diesen Blogs (finden sich hier und hier) nehmen sie oftmals kein Blatt vor den Mund.

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Urheber: Elisabeth S. Meyer-Lassahn

https://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Hummel#/media/Datei:ESML_L%C3%BCbecker_Literaturtreffen_2013_2.jpg

Cc3BYSA

Eleonora Hummel (2. v. r.) während des Lübecker Literaturtreffens 2013

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Gedicht

Heinrich Rahn: "Zwei Ansichten“

Zwei Ansichten

Wir steh’n auf dem Gipfel des Berges,
betrachten die Gegend vor uns.

Die schillernden Ketten von Dächern
umgeben die Burg Frauenstein.

Am Rande der buckligen Felder
fließt Rhein, von den Pappeln gesäumt.

Da weiter, im bläulichen Schleier,
schwebt Mainz, eine Lerchenbergstadt.

Wir steh’n auf dem Gipfel und träumen
von anderen Bildern rundum.

Wir glauben – es wären die Steppen,
wo wir lange, lange gelebt...

Unendliche Weiten im Gelben,
wo wehmĂĽtig klingt Orient.

Da glitzert ein seltenes Kleinod –
Im Bergring – smaragdgrüner See...

„Koksche“ – steile Felsen im Blauen,
umwoben von Nadeln und Harz.

Wir steh’n auf den Höhen und schwärmen,
von wĂĽrzigen LĂĽften berauscht.

Du wärmst deine Hände in meinen.
Ich schau dich entzĂĽckt lange an.

Du trägst einen rotgrünen Poncho
und siehst wie ein Schmetterling aus.

Die Iris in dein’ schrägen Augen
verschieben die Zeiten im Bild.

Da wiegt sich die Steppe im Osten –
Sich windet im Westen der Rhein.

In dieser vereinigten Gegend
find ich jetzt mein neues Zuhaus’.

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Buchauszug

Aus dem Roman des in Russland geborenen und heute in Deutschland lebenden Schriftstellers Mitja Vachedin, Engel sprechen Russisch (2017)

Hinweis: Mitja Vachedin ist kein Deutscher aus Russland.

Wie Zahnpasta bestehe Ich aus drei Schichten: Zehn Jahre sowjetische Kindheit, zehn Jahre wilder russischer Kapitalismus, zehn Jahre Westdeutschland. Rot, Blau, Weiss – Mein Russisch-deutsches Zahnpastaleben.

Mitja Vachedin, Engel sprechen Russisch. Roman, MĂĽnchen, Deutsche Verlags-Anstalt, 1. Auflage, 2007, S. 7.

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Buchauszug

Die russlanddeutsche Schriftstellerin Melitta L. Roth über Integration in einer Erzählung (2020)

Wir kamen hierher, als ich zwölf war. Drüben, da war ich lammfromm, der Liebling aller Lehrer und Erzieher, hab immer brav meine Hausaufgaben gemacht und fleißig Gitarre geübt. Meine Lieblingsbeschäftigung mit neun war Origami falten, im Ernst, das darf ich heute niemandem erzählen. Ich habe sogar Omas über die Straße geholfen.

Aber das war früher. Jetzt bin ich so, wie ihr mich haben wollt. Ungeduldig, rüpelhaft, rabiat, und brutal. Ein echter Iwan vom Lande. Ich habe mir sogar angewöhnt, seitlich aus dem Mundwinkel auf die Straße zu spucken. Ein Hooligan wie er im Bilderbuch steht. Ich frage mich nur, welche Eltern ihren Kindern solche Bilderbücher vorlesen. Aber egal.

Ihr wollt uns nicht verträumt. Ihr wollt uns nicht irgendwie gebildet und höflich. Dann eben nicht. Ich nehme meine Integration ernst und spiele nach euren Regeln. Als dahergekommener Russe weiß ich mich eben nicht richtig zu benehmen.

Ich werde euch nie verraten, dass ich mit meinem Onkel jede Woche angeln gehe, Lachs oder Forelle. Es gibt da diese quadratischen Teiche, die extra für Angler angelegt sind. Mit Tannen drum herum und einem Lokal mit Holzbänken davor. Obwohl Angeln und Jagen ja auch irgendwie männlich sind und zumindest mit Waffen zu tun haben. Nun ja, eine Angel ist nicht unbedingt eine Waffe, aber wir haben Fischmesser zum Ausnehmen dabei. Mein Onkel hat 'nen Angelschein und nimmt mich morgens um fünf immer mit, meistens an den Samstagen. Das ist nicht leicht, weil ich freitags meine obligatorische Sauftour mit den Jungs hab, aber ich habe mich dran gewöhnt. Oma macht mit den Fischen zu Mittag immer tolle Sachen, und ich helfe ihr dabei. Schnippeln und so. Danach kommt die ganze Familie zusammen und nach dem Essen spiele ich ein bisschen Gitarre und wir singen irgendwelche Balladen. Oft Sachen von Viktor Zoi2 oder nach den Texten von Okudschawa. Aber was ich indoor anstelle, hat die Mehrheitsgesellschaft ja nicht zu interessieren. Hauptsache, ich markiere draußen den starken Kerl. Manchmal ermüdet mich dieses Männlichkeitsgehabe, aber es kann auch lustig sein. Den Part im Fitnessstudio hasse ich. Übe lieber zuhause mit meinem Hanteln und am Reck, das mein Vater in die Wohnungszimmertür gehängt hat. Auch er weiß, was er diesem Land schuldig ist. Die ersten fünf Jahre arbeitslos, quasi. Er hat schon immer nachts und am Wochenende schwarz geschuftet. Naja, als Theaterintendant zu arbeiten, wie drüben in Russland, ist wohl nicht drin, verstehe ich auch. Theater in Deutschland, das ist nicht sowas Internationales, nicht wie am Broadway oder im Sidney Opera House, nein, hier ist es im besten Falle regional, wie das Gemüse. Er hat sich in unserem städtischen Gemüsetheater beworben, mit Diplom und einer Liste von allen Stücken, die er inszeniert hat, aber sie wollten lieber einheimische Rüben und Kohlköpfe engagieren, vom eigenen Acker. So fährt er eben Taxi und schuftet am Wochenende schwarz auf dem Bau. So wie es sein muss, wenn du aus dem Osten kommst und fremd hier bist.

Sobald irgendwer von der Polizei oder sogar der Postbote an der Tür klingelt, zieh ich mein Hemd aus, das mit dem gebügelten Kragen und kurzen Ärmeln und öffne im Unterhemd. Ich setze meine finsterste Miene auf. Für solche Fälle haben wir auf dem Telefontischchen neben der Haustür immer eine Bierflasche und eine angekaute Zigarettenkippe liegen, die klemme ich mir in den Mundwinkel, Flasche in der Hand und fertig. Es ist so einfach! Manchmal wundere ich mich, dass ihr darauf reinfallt, aber so sind die Regeln.

Melitta L. Roth, Gesammelte Scherben. Erzählungen und literarische Miniaturen, Herford 2020, S. 37 f.

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Gedicht

Irmgard Stoldt: "Wer bin ich?“

Hinweis:
Irmgard Stoldt (1912–1998) war seit 1969 Vorsitzende des Hilfskomitees der evangelisch-lutherischen Ostumsiedler und hat sich in dieser Funktion große Verdienste erworben. Hier kann man mehr über die Aktivitäten der Hilfskomitees nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland erfahren.

Wer bin ich?

Auslandsdeutscher,
Volksdeutscher,
Russlanddeutscher,
Sowjetdeutscher,
Deutschstämmiger Sowjetbürger,
Deutschrusse auch –
Was noch?
Ach, was denn noch?
Doch, doch, ja noch:
Hier Aussiedler, da Umsiedler,
Emigrant und Immigrant,
Auswanderer und Einwanderer,
Verschleppter Häftling noch dazu,
Aus dem Gewahrsam fremden Staates schlieĂźlich freigegeben,
Russischer BĂĽrger deutscher Zunge,
Ein fremder Deutscher,
Vertriebener und Flüchtling –
Ausgewiesen. Eingewiesen – integriert und angepasst!
Was will man denn von mir?
Was macht man hier mit mir?
Was mĂĽssen diese Etiketten
denn feststellen und bestimmen?
Merkmale sind es, die mein
Schicksal zeichnen
Und festnageln fĂĽr immer?
Entscheidungen
der hohen Politik sind das,
Maßnahmen von Behörden!
Was soll diese Distanz bewirken?
Warum nimmt man mich nicht auf?
Heimkehrer bin ich doch –
ein Deutscher, weiter nichts!
[…]

zitiert nach: Ljubow Kirjuchina, Sowjetdeutsche Lyrik (1941–1989) zu den Themen „Muttersprache“ und „Heimat“ als narrativer Identitätsakt (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 19), Wiesbaden 2000, S. 362.

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Buchauszug

Ein Mensch, der aus Russland kam, alles 'richtig gemacht' hat und in Deutschland integriert ist, ĂĽber den Erfolg seiner BemĂĽhungen

Hinweis: Alina Bronsky ist eine Schriftstellerin, die Anfang der 1990er Jahre mit ihren Eltern aus Russland nach Deutschland kam. Ihr Vater war jĂĽdischer Abstammung. Alina Bronsky ist keine Deutsche aus Russland.

Manchmal denke ich, dass ich nie wieder neue Menschen kennenlernen will, weil ich es satt habe, jedem das gleiche von vorn zu erklären. Warum ich Sascha heisse und wie lange ich schon in Deutschland lebe und warum ich so gut deutsch kann, ungefähr elfmal besser als alle anderen Russlanddeutschen zusammen. Ich kann deutsch, weil mein Kopf voll ist mit grauer Substanz, die wie eine Walnuss aussieht und makroskopisch viele Windungen hat, mikroskopisch dagegen eine stolze Menge Synapsen.

graue Substanz: auch graue Masse; Bezeichnung fĂĽr das Gehirn
Synapsen: VerknĂĽpfung zwischen Hirnzellen. Viele Synapsen sind fĂĽr die Verarbeitungsaufgaben des Gehirns sehr vorteilhaft.

Alina Bronsky, Scherbenpark, Köln 2008, S. 9 f.

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Gedicht

Rosa Pflug: "Schüler müssen rechnen können“

Langweilige Klassenräume –
waghalsige Kosmosträume.

Also will ich nicht mehr warten,
will mal die Rakete starten,

mache schnell die erste Runde –
da beginnt die Mathestunde

und der Lehrer Himmelreich
ruft mich an die Tafel gleich.

Muss mich von den Träumen trennen –
Schüler müssen rechnen können.

3 Zusammenfassung

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Auf dieser Seite ging es um die Frage, ob und wie man sich Heimat durch künstlerischen Ausdruck selbst schaffen und erarbeiten kann.

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Heimat erarbeiten KĂĽnstlerischer Ausdruck Russlanddeutsche Kunst
Heimat in groĂźen roten Buchstaben in einem Neubaugebiet
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Urheber: Kreuzschnabel

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Heimat-Wetzgau.jpg

Cc3BYSA

Heimat wird nicht nur durch Vergangenes geprägt. Heimat kann auch durch Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart entstehen. Dafür muss man offen sein und offen bleiben, man muss die eigenen Gefühle – Sehnsucht, Verwirrung, Trauer, Enttäuschung, Wut – zulassen und einen Ausdruck für sie finden.

Kunst eignet sich sehr gut fĂĽr diese Auseinandersetzung. Literatur, Musik und Malerei sind klassische Mittel, mit den eigenen GefĂĽhlen konstruktiv umzugehen und sie seiner Umwelt mitzuteilen.

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Urheber: Elisabeth S. Meyer-Lassahn

https://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Hummel#/media/Datei:ESML_L%C3%BCbecker_Literaturtreffen_2013_2.jpg

Cc3BYSA

Die vielen, oft widersprüchlichen Gefühle, die Russlanddeutsche ihren verschiedenen Heimaten entgegenbringen, sind wahrscheinlich eine Erklärung für die große Anzahl an russlanddeutschen Künstlern.

Heimat erarbeiten KĂĽnstlerischer Ausdruck Russlanddeutsche Kunst