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1939 brach der
Zweite Weltkrieg aus und 1941 erklärte Deutschland der Sowjetunion
den Krieg. Zum zweiten Mal innerhalb von 27 Jahren befanden sich die
Russlanddeutschen in einem militärischen Konflikt zwischen
ihrer alten und ihrer aktuellen Heimat. Aber diesmal hatten sie mit
Josef Stalin einen Staatsführer, der schon vor dem Krieg rücksichtslos
und brutal gegen tatsächliche und eingebildete Feinde vorgegangen war.
Diese Ausgangssituation sollte für die Russlanddeutschen zur wohl
größten Katastrophe ihrer Geschichte führen.
1 Die Legende von der '5. Kolonne' und die verstärkte Unterdrückung der Russlanddeutschen
2
§
Urheber: unbekannt
PD
Angriff aus dem Hinterhalt – Die 5. Kolonne in einer spanischen Karikatur von 1936
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler
ernannt. Es begann die Diktatur der Nationalsozialisten, die aus ihrem
Hass auf den Kommunismus und ihren Plänen, 'Lebensraum' in Osteuropa zu
erobern, kein Geheimnis machte. Bei den Machthabern in Moskau lösten
diese Nachrichten aus Deutschland große Unruhe und Besorgnis aus. Das
spürten auch die deutschen Kolonisten in der Sowjetunion. Der
sowjetische Geheimdienst warnte immer mehr vor deutschen Spionen und den
'faschistischen Agenten' im Lande. Damit waren die Russlanddeutschen
gemeint. Die Legende der sogenannten fünften Kolonne wurde geschaffen, also eines Feindes im eigenen Land, der wie eine Armeekolonne des Feindes handelt.
Wahrscheinlich glaubten viele Russen bald wieder daran, dass die Deutschen im Land 'illoyal' und 'reaktionär'
seien und sich in einem Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der
Sowjetunion auf die Seite der deutschen Truppen stellen würden. Mit der
zunehmenden Festigung der Macht der Nationalsozialisten in Deutschland
verschärften die kommunistischen Machthaber ihre Maßnahmen gegen die
Russlanddeutschen in der Sowjetunion. Ähnlich wie in der Zarenzeit
wurden bald 'vorsorglich' die westlichen Grenzbewohner aus ihrer Heimat
entfernt und nach Kasachstan deportiert.
Der Druck auf alle Russlanddeutschen stieg in den 1930er Jahren ständig
weiter an. Er mündete 1936 in Verhaftungen und Erschießungen wegen
'erwiesenen' Landesverrats.
3
Quelle
Kampf gegen die 'fünfte Kolonne' (1934)
Hinweis: Das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei
beschloss am 5. November 1934 eine Verordnung, in der alle Gebiets- und
Parteikomitees verpflichtet wurden, die Deutschen streng zu behandeln:
Im ZK sind Meldungen darüber eingegangen, dass in den deutsch
angesiedelten Regionen sich neuerdings antisowjetische Elemente
aktiviert haben und offene konterrevolutionäre Tätigkeit führen.
Unterdessen reagieren die örtlichen Parteiverbände und Organe des NKWD äußerst
gelassen auf diese Tatsachen, sie leisten dem Vorschub, in der
fälschlichen Annahme, unsere internationale Politik fordere diese
Duldung gegenüber den Deutschen oder anderen in der UdSSR lebenden und
gegen die elementare Loyalität gegenüber der Sowjetmacht verstoßenden
Nationalitäten. Das ZK hält die Tatsache, dass in den deutschen Regionen
nicht nur die Sprache der jeweiligen Sowjetrepublik, in der sich die
Region befindet, nicht gelehrt wird, sondern die Verordnungen des ZK
ignoriert werden, ebenfalls für absolut unzulässig und verlangt die
Beseitigung dieser Mängel.
Das ZK hält solches Verhalten der Parteiverbände und der NKWD-Organe
für absolut falsch und ordnet an, in Bezug auf die aktiven
Konterrevolutionäre und antisowjetisch gestimmten Elemente repressive
Maßnahmen, Verhaftungen, Aussiedlung anzuwenden und die böswilligen
Anführer zum Erschießen zu verurteilen. [...]
4
Quelle
Zeitgenössischer Bericht über die Situation der Deportierten in Kasachstan
Hinweis: Bei dem folgenden Bericht handelt sich
um Angaben aus einem Schreiben des Vorsitzenden des Volkskommissariats
der Kasachischen SSR, U. Isaev, an den Vorsitzenden des Rats der
Volkskommissare der UdSSR, W. M. Molotov, in Moskau vom 27. April 1937.
In den Gebieten Karaganda und Nord-Kazachstan der Kazachischen SSR
wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 1936 14.048 Familien
(vorwiegend Deutsche und Polen) aus grenznahen Gebieten der Ukraine
angesiedelt. Die Ansiedlung dieser Familien erfolgte auf nicht
erschlossenen Territorien, auf denen es bisher keine Siedlungen gab. Für
diese wurden 37 Siedlungen neugegründet. [...] Die im Jahre 1936
erstellten Gebäude für Schulen und medizinische Einrichtungen
entsprechen weder zahlenmäßig noch qualitativ den Mindestanforderungen.
Außerdem gibt es überhaupt keine Gebäude für das Post- und
Fernmeldewesen. Für größeres landwirtschaftliches Inventar, Traktoren,
Mähdrescher und Hänger wurden einfachste Garagen errichtet, in denen
lediglich kleinere Reparaturen durchgeführt werden können.
Evangelisch-lutherische Kirche in Marx, ehemals Katharinenstadt (vor 1917)
Stalin und sein Geheimdienstchef Nikolai Jeschow sahen bald überall
deutsche Spione, die den Einmarsch deutscher Truppen vorbereiteten. Sie
entschlossen sich, gezielt und umfassend gegen diese 'Gefahr'
vorzugehen. Am 25. Juli 1937 startete die Operation sowjetischer
Behörden gegen die deutschstämmigen Sowjetbürger. Auf Anweisung Josef
Stalins wurden erst einmal alle aus Deutschland stammenden Bürger, die
als Spezialisten in rüstungsrelevanten Fabriken, Kraftwerken und auf
Großbaustellen arbeiteten, entfernt und verhaftet – ohne Ausnahme.
Wenige Tage später wurde dieser 'Säuberungsbefehl' auch auf die
russlanddeutschen Kolonisten angewandt. So wurden zum Beispiel Menschen
verhaftet und erschossen, die Hilfspakete aus Deutschland angenommen
hatten. Wer aus politischen Gründen von Deutschland in die Sowjetunion
geflohen war, geriet unter Verdacht. Frühere Kriegsgefangene, deutsche
Kommunisten, Besucher deutscher Konsulate – sie alle wurden verdächtigt,
Spione zu sein. Auch die Rote Armee wurde von Deutschen 'gesäubert'.
Die Listen der sogenannten Staatsfeinde waren Ende des Jahres 1937
abgearbeitet, doch vermuteten Stalin und Jeschow, dass es noch mehr
Spione geben müsse. Die Jagd ging deswegen bis zum September 1938
weiter. Und wenn keine 'Beweise' für einen Schuldspruch gefunden wurden,
genügte für eine Verurteilung schon allein die deutsche Nationalität.
Bereits in den 20er Jahren begann Josef Stalin, die bolschewistische Partei, aber auch die Sowjetunion als Ganzes von vermeintlichen Feinden zu säubern. Diese stalinistischen Säuberungen dauerten Jahre an und forderten mehrere Millionen Opfer.
Als Erstes waren Stalins 'Parteifreunde' dran: Viele Kommunisten der ersten Stunde wurden in Schauprozessen des Verrats an der Revolution angeklagt und zum Tode verurteilt.
Dieses Foto zeigt eine Liste von 1940 mit Namen von Menschen, die für die Hinrichtung vorgeschlagen werden. Darüber hat Stalin, 'Ja' und seine Unterschrift gekritzelt. Die Liste geht auf den nächsten Seiten weiter und umfasst 346 Namen.
Aber nicht alle der Hinzurichtenden wurden namentlich ausgewählt. Oft wurden einfach 'Quoten' erlassen, in einem bestimmten Bezirk soundsoviele 'konterrevolutionäre Verbrecher' zu töten. Stalins Untergebene überboten sich oft im Erfüllen dieser Todesquoten. Hier siehst du ein Schreiben eines Beamten aus Irkutsk, der bittet, die Quote für seinen Bezirk um 4.000 Personen anheben zu dürfen.
8
Darstellung
Das 'Gesetz des 1. Dezembers' 1934 als Grundlage der 'Großen Säuberung'
S.M. Kirow auf dem Podium des XVII. Kongresses der KPdSU, 1934
Am 1. Dezember 1934 wurde der führende sowjetische Politiker Sergei
Kirow erschossen. Die Gründe für diesen Mord waren unklar. Manche
Hinweise sprachen dafür, dass es sich um eine Tat aus Eifersucht
gehandelt haben könnte. Gerüchte besagten, dass Kirow eine Beziehung mit
der Frau des Mörders gehabt habe.
Stalin ließ diesen Mord zu einem politischen Attentat erklären. Er
wurde zum Auslöser für die Verfolgung und Vernichtung möglicher,
angeblicher Staatsfeinde. Und Stalin nutzte die Gelegenheit, um
politische Gegner beseitigen zu lassen. Wenige Tage nach dem Attentat
wurde das 'Gesetz des 1. Dezembers' erlassen: Es machte Vorgaben für den
Umgang mit Terrorverdächtigen. Während der 'Säuberungen' kam es zur
Anwendung:
Die gerichtlichen Untersuchungen sollten nicht länger als 10 Tage dauern.
Die Anklageschrift sollte Tatverdächtigen erst einen Tag vor der Verhandlung überreicht werden.
Eine Anhörung der Beschuldigten war nicht vorgesehen, auch keine Überprüfung des Urteilsspruchs.
Auch Gnadengesuche waren nicht zugelassen.
Eine Todesstrafe musste sofort vollstreckt werden.
9
Quelle
Befehl zum Beginn der Operation gegen die Deutschen (1937)
Durch Agentur- und Untersuchungsmaterial der letzten Zeit ist bewiesen, daß der deutsche Generalstab und die Gestapo in
breitem Maße Spionage und Spionagetätigkeit in den wichtigsten und vor
allem in den Betrieben der Verteidigungsindustrie betreiben und zu
diesem Zweck die dort seßhaft gewordenen deutschen Staatsangehörigen
nutzen. Das Agentennetz aus den Reihen der deutschen Staatsangehörigen,
die bereits jetzt Schädlings- und Sabotageakte verwirklicht, richtet
ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Organisation von
Sabotageaktionen in der Kriegszeit und bereitet zu diesem Zweck
Saboteure vor. Zur vollständigen Unterbindung dieser Tätigkeit der
deutschen Aufklärung befehle ich:
1. Innerhalb von drei Tagen nach Erhalt dieses Befehls die deutschen Staatsangehörigen genau festzustellen [...].
2. Ab dem 29. Juli dieses Jahres ist mit der Verhaftung aller von
Ihnen festgestellten deutschen Staatsangehörigen zu beginnen, die in
Militärbetrieben und in Betrieben mit Werkshallen für die
Verteidigungsproduktion und bei der Eisenbahn arbeiten sowie der aus
diesen Betrieben Entlassenen, wenn diese auf dem Territorium Ihrer
Republik, Region oder Ihres Gebietes leben. Die gesamte
Verhaftungsaktion ist innerhalb von fünf Tagen abzuschließen.
3. Deutsche Politemigranten, die in Militärbetrieben und in Betrieben
mit Werkshallen für die Verteidigungsproduktion arbeiten, sind nur dann
zu verhaften, wenn sie weiterhin deutsche Staatsangehörige sind. [...]
4. Die Untersuchung hinsichtlich der Verhafteten ist besonders
sorgfältig zu führen. Es ist die bisher nicht entlarvte Agentur der
deutschen Aufklärung aufzudecken, um das von ihr in den
Industriebetrieben hinterlassene Sabotagenetz endgültig zu zerschlagen.
[...]
5. Während der Untersuchung unter Sowjetbürgern oder auch Angehörigen
anderer Staaten neu festgestellte deutsche Agenten und Spione,
Saboteure und Terroristen unabhängig von ihrer Arbeitsstelle
unverzüglich zu verhaften.
6. Gleichzeitig mit der Durchführung der Aktion ist daranzugehen,
alle deutschen Staatsangehörigen, die in anderen Industriebetrieben, in
der Landwirtschaft und in Sowjeteinrichtungen arbeiten, sowie ehemalige
deutsche Staatsangehörige, die die sowjetische Staatsbürgerschaft
angenommen und früher in Militärbetrieben oder in Betrieben mit
Werkshallen für die Verteidigungsproduktion gearbeitet haben, sorgfältig
zu erfassen. [...]
7. Täglich sind mir bis 12 Uhr für den vergangenen Tag telegraphisch
der Verlauf und die Ergebnisse der Aktion und alle durch die
Untersuchung erhaltenen Materialien zu übermitteln.
8. Der Befehl ist telegraphisch in Kraft zu setzen.
Volkskommissar des Inneren der Union der SSR Generalkommissar für Staatssicherheit (N. Jeschow)
Gestapo: Die 'Geheime Staatspolizei' der
Nationalsozialisten war eigentlich für die Verfolgung von politischen
Gegnern in Deutschland zuständig. Der sowjetische Geheimdienst
verdächtigte sie aber auch der Spionage im Ausland.
Teil einer Doku über den stalinistischen Terror [09.07.2021]
11
Darstellung
Die Unterdrückung betraf alle
Die Strafen waren ausgeführt, die potentiellen Gefahren schienen
vorerst beseitigt, doch das Misstrauen blieb. Bereits 1937 mussten die
Russlanddeutschen bei den Behörden als Nationalität Deutsch angeben. Im
folgenden Jahr schritt der Staat zur Auflösung aller deutschen Rayons
außerhalb des Wolgagebiets [...]. Die deutschen Kultur- und
Bildungseinrichtungen erhielten Schließungsbeschlüsse, während die
Schule und die Zeitung russisch wurden. Die Lehre in deutscher Sprache
galt fortan als schädlich. Der Deutsche war insgesamt als vollwertiges
Mitglied aus der russischen Gesellschaft abgetrennt worden.
12
Darstellung
Ein Historiker über die Wolgadeutsche Republik während der 'Säuberungen'
Das Ausmaß der Verfolgung in den 1930er Jahren erreichte in der
Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen
(ASSRdW) bei weitem nicht die Dimensionen, die es unter den verstreut
lebenden Landsleuten in der Ukraine, auf der Krim oder in Sibirien zu
verzeichnen gab. Deutlich geht das aus der Tatsache hervor, dass den
Aussiedlungen von Polen und Deutschen im Jahre 1936 aus den westlichen
Grenzgebieten der Ukraine nach Nordkasachstan keine weiteren „Transfers"
aus der Wolgarepublik folgten. Immerhin besaß die bolschewistische
Führung vor dem Zweiten Weltkrieg noch gewisse Hemmungen, die
Statusvölker – d. h. solche, die über ein autonomes Territorium verfügten
– komplett zu entrechten.
13
Der Russlanddeutsche Erwin Vetter berichtet über den Großen Terror§
Der Befehl zur Deportation, wie er zwei Tage später in den russlanddeutschen Zeitungen stand.
Am 24. August 1939 wurde in Moskau der sogenannte deutsch-sowjetische
Nichtangriffspakt unterzeichnet. Die Russlanddeutschen schöpften
Hoffnung. Wenn sich die Beziehung zwischen der Sowjetunion und
Deutschland verbesserte, würde das auch ihre Lage verbessern.
Die Hoffnung war trügerisch, die deutschen
Nationalsozialisten strebten weiter nach 'Lebensraum im Osten'. Am 22.
Juni 1941 brachen sie den Vertrag und überfielen die Sowjetunion.
Bereits wenige Tage später kam es zur Besetzung von Teilen der Ukraine.
Stalin ging davon aus, dass die Russlanddeutschen mit der Wehrmacht
zusammenarbeiten würden, wenn sie nur die Gelegenheit bekamen. Für
ihn und die sowjetische Führung war die Zeit gekommen, ohne
Rücksichtnahmen gegen die Russlanddeutschen vorzugehen: Alle Deutschen
sollten aus dem europäischen Teil der Sowjetunion deportiert werden.
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Erklärung
Deportation
Deportation bedeutet staatlich angeordnete Zwangsumsiedlung. Bei einer Deportation werden meist größere Menschengruppen von Polizei oder Militär gezwungen, ihre Wohnorte zu verlassen, und an einen anderen Ort transportiert. Deportationen führen oft in Straflager oder in unwirtliche Gegenden. Opfer von Deportationen sind häufig ethnische, religiöse, politische oder wirtschaftliche Gruppen.
Ein Häftlingsfoto des 1942 verhafteten und kurz darauf erschossenen Russlanddeutschen Jakob Fröse.
Mit dem Deportationserlass vom 28. August 1941 unterstellte die sowjetische Staatsführung den Wolgadeutschen, dass es unter ihnen tausende Verräter und Spione gäbe. Deswegen sollten alle Deutschstämmigen ausgesiedelt werden. Als Beweis für den angeblichen Verrat dienten Hakenkreuzfahnen, die man bei Russlanddeutschen gefunden hatte. Sie waren anlässlich eines vor dem Krieg geplanten Besuchs von Adolf Hitler in der Sowjetunion verteilt worden. Die Bestrafung für den Verrat betraf jeden, auch Kommunisten. Allein die deutsche Nationalität war entscheidend. Das deutsche Leben im gesamten europäischen Gebiet der Sowjetunion sollte ausgelöscht werden. Aus dem Wolgagebiet wurden innerhalb von drei Wochen etwa 400.000 Menschen in Eisenbahnwaggons gepfercht und nach Osten transportiert.
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Die Russlanddeutsche Swetlana Paschenko über die Deportationserfahrung in ihrer Familie§
Reaktionen der Russlanddeutschen an der Wolga auf die Deportation (2. September 1941)
Bei einem bedeutenden Teil der deutschen Bevölkerung hat die
Veröffentlichung des Erlasses [vom 28.08.1941] feindselige Gefühle
hervorgerufen: Äußerungen der Deutschen zum Erlass laufen hauptsächlich
auf Versuche hinaus, die Behauptung zu widerlegen, die deutsche
Bevölkerung verberge in ihrer Mitte Feinde des sowjetischen Volkes und
der Sowjetmacht.
Hinweis: Auszug aus einem Brief des Sekretärs des Gebietskomitees der VKP (b) der ASSRdW, S. Malov an Stalin
20
Darstellung
Deutsche anderer Siedlungsgebiete im besetzten Einflussbereich der Wehrmacht
NS-Einbürgerungsurkunde von Margarethe Penner, geborene Thießen. Sie stammte aus Nikolaifeld in der Sowjetunion, ging mit der deutschen Armee zurück und wurde nach dem Krieg in die Sowjetunion zurückgebracht. Sie war die Mutter von Johann Thießen, der heute Vorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist. Das Schicksal der Familie war hart. Die kleine zweijährige Schwester Johanns wurde der Mutter weggenommen. Die sowjetischen Behörden sagten ihr, die Kleine solle eine "anständige Erziehung erhalten und nicht die einer Verräterin." Die Mutter fand ihre Tochter niemals wieder, obwohl sie lebenslang nach ihr suchte.
Jene Deutschen, die nicht deportiert wurden, weil sie in das
Einflussgebiet der vorrückenden deutschen Wehrmacht gerieten, sahen
ebenso einem ungewissen Schicksal entgegen. Als die Rote Armee am Ende
des Kriegs wieder vorrückte, gerieten die Deutschen in eine schwierige
Situation. Sie konnten ja nichts dafür, dass die Wehrmacht ins Land
eingefallen war, aber sie mussten befürchten, dass es ihnen sehr
schlecht ergehen würde, wenn sie wieder unter sowjetische Herrschaft
geraten würden. Also entschlossen sich viele, mit der zurückweichenden
Wehrmacht ebenfalls zurückzugehen. Zunächst wurden sie ins deutsche
Einflussgebiet in Polen geschickt, ins sogenannte Wartheland. Dort
wurden viele Russlanddeutsche Ende 1944 sogar noch eingebürgert, bekamen
also eine offizielle Einbürgerungsurkunde. Wahrscheinlich war vielen
von ihnen im November oder Dezember 1944 bereits klar, dass diese
Papiere des NS-Staates nichts wert waren. Als die Front vorrückte, ging
auch die Flucht weiter. Nach Ende des Krieges wurden die
Russlanddeutschen in der sowjetischen Besatzungszone wieder ausfindig
gemacht und in die Sowjetunion zurückgebracht. Dort kamen sie wie viele
andere Russlanddeutsche unter Kommandantur und mussten zum Teil schwere
Zwangsarbeit leisten.
4 Die neue 'Heimat' der Deportierten
21
Als die neuen Siedler in Kasachstan und Sibirien eintrafen, waren die
örtlichen Behörden nicht auf diesen Ansturm vorbereitet. Es mangelte an
Unterkünften und Nahrungsmitteln. Viele Familien mussten sich selbst
Erdhütten bauen, um den Winter zu überleben. Für ihre Arbeit in den Kolchosen erhielten die Russlanddeutschen 400 Gramm Getreide als Tageslohn. Diese Menge konnte den Bedarf einer Familie nicht decken.
Der Unmut gegenüber der Sowjetmacht wuchs. Diese verlor schließlich
alle Sympathien, als die Zwangsumgesiedelten feststellten, dass der
Staat sie um ihr Hab und Gut betrogen hatte. Vor der Abreise war den
Russlanddeutschen befohlen worden, das Getreide, das Vieh und den
Hausrat dem sowjetischen Staat zu überschreiben. Darüber hatten einige
Quittungen erhalten. Und die sowjetischen Behörden hatten ihnen
versprochen, dass sie diese Quittungen in den neuen Siedlungen gegen
Nahrungsmittel eintauschen könnten. Das geschah aber nur in geringem
Maße. Einige Monate später wurden die Quittungen schließlich für
ungültig erklärt. Der Besitz war verloren.
Die Deportierten hungerten und waren nun gänzlich verarmt. Sie lebten
unfrei und wurden auf Schritt und Tritt beobachtet. Ihr Schicksal
verschlimmerte sich jedoch weiter: Im Januar 1942 verpflichtete der
sowjetische Staat alle wehrpflichtigen Männer und bald auch die Frauen
zur Zwangsarbeit in der sogenannten Trudarmee. Familien wurden
auseinandergerissen. Viele Menschen sahen ihre Angehörigen für lange
Jahre oder gar nicht wieder. In den Wäldern der sibirischen Taiga
bemächtigte sich der Sowjetstaat ihrer Arbeitskraft und machte sie zu
Sklaven. Viele starben an Entkräftung, Krankheiten oder an
Nahrungsmangel.
Neuer Wohnort in Kasachstan, Bild des russlanddeutschen Malers Viktor Hurr
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Erklärung
Trudarmee
Das Wort ist eine Zusammensetzung aus dem russischen Wort für Arbeit
("Trud"; Труд) und Armee ("Armia"; армия). Die Trudarmee war eine Form
von Zwangsarbeit. Sie bestand im Zweiten Weltkrieg seit 1941 und wurde
1946 aufgelöst. Viele Russlanddeutsche wurde in die Trudarmee gezwungen. In
der Trudarmee zu sein, bedeutete für die Trudarmisten, dass sie nach
militärischen Regeln leben mussten, streng bewacht wurden und keine
eigene Entscheidungsfreiheit hatten. Wer in der Trudarmee war, durfte
den Ort nicht verlassen, hatte keine Bürgerrechte, durfte über seine
Arbeit und sein Leben nicht selbst bestimmen. Die Arbeit musste nach
einer bestimmten Norm erfüllt werden. Dafür bekamen die Arbeiter eine
bestimmte Menge Brot. Wer die Arbeitsnorm nicht erfüllen konnte, bekam
sofort geringere Brotrationen. Dadurch starben viele Menschen sehr
schnell.
24
Quelle
Der Wolgadeutsche Heinrich Wagner erzählt von der Zwangsarbeit
Wir wurden in Brigaden zu 30 Mann eingeteilt und drei Tage lang
unterwiesen, wie man Bäume fällt, sie entastet, Stämme schneidet und sie
zum Fluss hinunter abtransportiert. Wir erhielten Arbeitssachen,
Steppjacken und -hosen sowie warme Stiefel. Zuerst war die Arbeit für
alle außerordentlich schwer. Wir mussten uns zu Beginn schon sehr
anstrengen, um die Tagesnorm zu schaffen. Die meisten von uns hatten bis
dahin nichts mit Holzfällen zu tun gehabt.
Doch wer körperliche Arbeit gewohnt und gesund war, fuchste sich bald
ein und hatte dann auch keine Schwierigkeiten mehr, die Tagesnorm zu
schaffen. Anders war es für diejenigen unter uns, die aus der
Verwaltungsarbeit kamen, schon älter oder kränklich waren. Sie schafften
die Norm nicht. Das hatte zur Konsequenz, dass ihnen weniger Nahrung
zugeteilt wurde. Sie wurden noch schwächer oder mussten auf die
Krankenstation. Es gab Krankschreibungen und Arbeitsbefreiungen. Die
medizinische Versorgung war schlecht, sie entsprach der allgemeinen
Kriegssituation. Es gab nur wenige Medikamente. Das Hauptproblem bestand
jedoch in der schlechten, schwer verdaulichen und vitaminarmen Nahrung.
Wer ernsthaft krank wurde, hatte dann bei dieser Ernährung wenig
Chancen, wieder zu genesen. Wir machten zwar im Lager einen „Teeaufguss"
aus Kiefernnadeln und Birkenrispen. Große Bottiche standen damit in den
Unterkünften. Doch diese Art von Vitamingewinnung reichte keineswegs
aus. Besonders im ersten Jahr unseres Aufenthaltes im Lager starben
viele.
25
Quelle
Schilderung über den Nahrungsmangel im Arbeitslager
Hinweis: Briefe von Lagerinsassen wurden von
Geheimdienstmitarbeitern kontrolliert. Es sollte nicht bekannt werden,
wie die Verhältnisse im Lager wirklich waren. Manche Zwangsarbeiter
flüchteten sich deshalb in lustige Schilderungen. Sie versuchten mit
diesem Mittel, die Wahrheit 'zwischen den Zeilen' zu verstecken.
Fleischmann habe ich seit meiner Ankunft hier noch nie getroffen. Wo
er arbeitet, ist mir nicht bekannt. Grützmann ist versetzt worden.
Kartoffelmann treffe ich sehr selten, er hat nie Zeit für mich. Manchmal
kommt mir Krautmann entgegen, doch schon lange vermisse ich Mehlmann
und Nudelmann. Milchmann und Schmandmann wurden noch bei der Verladung
in den Zug von uns getrennt. Wassermann und Arbeitsmann sind die
einzigen, denen ich jeden Tag begegne. Ja, fast habe ich Brotmann
vergessen. Er ist krank geworden, sieht schwarz und schwerfällig aus.
[…] Du kannst allen sagen, dass meine einzigen Freunde hier Hungermann,
Läusemann, Wanzenmann und Arbeitsmann sind. (Ein anonymer Verfasser an seine Frau)
26
Quelle
Bericht über das Massensterben im Zwangslager Wjatlag
28.643 Insassen beherbergte das Zwangsarbeitslager Wjatlag,
zwei Jahre später war ihre Zahl aufgrund von zahlreichen Todesfällen
und Schwerkranken auf 11.979 Menschen geschrumpft. Unter ihnen waren
auch russlanddeutsche Männer und einige hundert Frauen. [...] [Das]
verursachte maßgebend die minderwertige Ernährung (das Fehlen von Gemüse
und Kartoffeln) und die Überanstrengung der vorhandenen Kräfte bei
Verladearbeiten wegen des Defizits an Arbeitskraft […]. Infolgedessen
befanden sich einzelne Verladebrigaden in den Monaten Februar bis März
oft täglich 20 Stunden und länger an den Verladepunkten.
Ausschnitt aus einer Doku über das Leben in den Deportationsgebieten [09.07.2021]
28
Darstellung 6
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Aus Zwangsarbeitern werden 'Sondersiedler'
Die Auflösung der Arbeitskolonnen sowie die Eingliederung der
Zwangsarbeiter in die Betriebe und Bauorganisationen bedeutete 1945/1946
nicht die Wiederherstellung der Bürgerrechte.
Die Verbannten erhielten den Status eines Sondersiedlers und
unterstanden fortan der Willkür der Sonderkommandanturen des NKWD. So
durften sie weder die Arbeit noch den Wohnort frei wechseln. Meistens
mussten die Deutschen auch weiterhin einfachste Schwerstarbeit im
Kohlebergbau, in der Bauwirtschaft sowie in der Land- und
Forstwirtschaft verrichten. Der Zugang zu Bildungseinrichtungen oder
Reisen in den europäischen Teil der Sowjetunion wie auch selbst der
Zugang zu medizinischer Betreuung unterlagen starken Beschränkungen.
Zumindest gestattete man ihnen die Zusammenführung ihrer verstreuten
Familien. Gnade hatte der Sondersiedler auch zukünftig nicht zu
erwarten. Das macht Stalin am 26. November 1948 deutlich, als er die
Verbannung auf ewig festschrieb. Für jeden Russlanddeutschen ab einem Alter von 16 Jahren wurde jetzt eine Personalakte mit dem gesamten
Lebenslauf angelegt. Er hatte sich fortan monatlich bei der Kommandantur
zu melden und durfte ohne schriftliche Erlaubnis den vorgeschriebenen
Wohnort nicht mehr als 5 Kilometer weit verlassen. Wer es doch tat, dem
drohten 20 Jahre Straflager.
29
Quelle
Aus Trudarmistin Ida Schmidt wird eine 'Sondersiedlerin'
Den 9. Mai 1945, den Tag des Sieges über den Faschismus, feierten wir
ausgelassen. Wir hatten uns irgendwo Alkohol besorgt und waren fröhlich
und ausgelassen. Wir sangen und tanzten auf der Straße. Nun, so
glaubten wir, stände der Rückkehr zu unseren Familien und Verwandten
nichts mehr im Wege. Doch wir hatten uns getäuscht. Die meisten von uns
mussten bleiben. Wir, die Deutschen, durften nicht ohne Zustimmung den
Arbeitsplatz und den Wohnort wechseln. Bis 1955 mussten wir uns bei der
Polizei melden und waren Bürger zweiter Klasse.
5 Zusammenfassung
30
Auf dieser Seite ging es darum, wie stalinistischer Terror und der Zweite Weltkrieg zum Ende der Wolgadeutschen Republik führten.
31
Terror
Deportation
Neue 'Heimat'
§
Urheber: unbekannt
PD
Stalin sah überall Feinde und Spione, mit der Machtübernahme Hitlers 1933 in Deutschland rückten die Russlanddeutschen aber besonders in sein Visier. Verhaftungen und Deportationen begannen schon früher, ab 1937 wurden völlig unschuldige Deutsche aber gezielt und in großer Zahl verhaftet und als Staatsfeinde hingerichtet.
Am 28. August 1941, zwei Monate nach der deutschen Kriegserklärung, erließ Stalin den Befehl, alle Deutschen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion zu deportieren. Viele Hunderttausend Menschen wurden aus ihren Häusern geholt und mehrere Tausend Kilometer nach Osten gefahren. Die Wolgadeutsche Republik hörte auf zu existieren.
In Sibirien und Kasachstan wurden die deportierten Deutschen abgesetzt. Sie mussten sich größtenteils selber um ihr Unterkommen und Überleben kümmern. Die Behörden vor Ort stellten sie unter militärische Beobachtung und verpflichteten sie ab 1942 zur Zwangsarbeit in der Trudarmee.